Jenseits der Eisenberge (German Edition)
sich in einen Raum einsperren, von dem aus er den Himmel nicht sehen konnte?
Der Priester zog sich die Kapuze seiner Robe vom Kopf und musterte Lys. Er war ein bleicher, sehr hagerer Mann mittleren Alters. Das blonde Haar war kurz geschoren, das Gesicht glatt rasiert, wie es für seinen Stand üblich war. In seinem Blick aus dunkelblauen Augen lag ebenso viel Misstrauen wie Lys es selbst empfand. Lys verschränkte die Arme vor der Brust und wartete ab.
„Wir beobachten Euch schon eine Weile“, begann der Priester schließlich leise. Lys erschauerte, was gleichermaßen an den Worten wie an der Stimme des Mannes lag. Wie die meisten Geweihten besaß auch dieser eine unterschwellige Macht, die in der Stimme mitschwang. „Die Brüder und Schwestern der Gottesdiener setzen große Hoffnungen in Euch, Fürst von Corlin. Ihr seid kein frommer Mann, doch Ihr folgt den Geboten der Allmächtigen.“
„Ich glaube nicht an die Allmacht, Herr, denn sonst müsste ich angesichts der Grausamkeit der Götter verzweifeln. Man findet mich nicht oft im Götterdienst, das ist allerdings wahr, auch wenn ich gläubig bin. Ich habe viele Pflichten.“ Lys widerstand dem Drang, beschämt den Kopf zu senken. Er wusste, es war eine schwache Ausrede, Arbeit vorzuschieben. Wenn er nur wollte, könnte er jederzeit beten – auch auf der Weidenburg lebten Geweihte beider Götter. Der strafende Blick des Priesters erinnerte ihn an die stumme Missbilligung seines Vaters, was sein Unbehagen nicht besserte.
„Nun, warum beobachtet man mich?“, fragte er, um von diesem Thema abzulenken. „Welche Hoffnung soll ich erfüllen? Oder habe ich vielleicht bereits versagt?“
„Ihr seid der folgende König, und Ihr werdet schon bald den Thron besteigen. Maruvs Tage sind gezählt, er weiß das. Euer Freund ist das Opfer einer Intrige geworden, an der nicht nur der König selbst mitgewirkt hat.“ Der Priester hielt inne, mit einem nachdenklichen Ausdruck im Blick.
„Was wisst Ihr?“, fragte Lys rasch, begierig, mehr zu erfahren.
„Zu wenig. Und viel mehr, als ich Euch verraten darf. Ich will keine Vermutungen äußern, die Euch zu falschen Schlüssen führen könnten, und ich will meine eigenen Leute nicht gefährden. Doch wisset, dass zu dem Zeitpunkt, als Euer Freund als Sklave verkauft wurde, nicht nur eine Abordnung aus Irtrawitt in Purna weilte, sondern auch Archym von Lichterfels und Euer Vater, Erebos von Corlin.“
Lys dachte intensiv nach. Wenn sein Vater wüsste, dass er es gewesen war, der Roban getötet hatte, würde er gewiss keine Intrige spinnen, sondern ihm offen den Krieg erklären. Sein Schwiegervater hingegen … Kirian war sein Sohn. Archym hatte ihn vor vielen Jahren verstoßen müssen, seither galt Stefár von Lichterfels als tot. Archym würde seinen Sohn nicht beschützen, aber sicherlich nicht anwesend bleiben, um seiner Folterung zuzusehen.
„Nein, es gibt keinen logischen Grund anzunehmen, dass Corlin oder Lichterfels an dieser Intrige beteiligt sind. Waren noch weitere Adlige anwesend?“
Der Priester betrachtete ihn nachdenklich, dann nickte er. „Mehrere hochrangige Fürsten – Albart von Lindingen, dessen Bruder Ilkys, Fürst Enno von Birkten waren die Wichtigsten. Ihr kennt sie gewiss, zählen sie doch zu Euren mächtigeren Feinden. Es gab Herren, die ihre Identität verbargen, deshalb kann ich nicht alle benennen. Dazu noch einige niedrigere Adlige.“
„Alle, die Ihr genannt habt, sind Maruv treu ergeben, nur mein Vater nicht. Eventuell hat man ihn bedroht, damit er nicht eingreift, wenn man gegen mich intrigiert.“ Lys seufzte und zuckte die Schultern. „Ihr habt meine Frage vorhin nicht vollständig beantwortet, Herr. Was erwartet die Priesterschaft von mir?“
„Dass Ihr überlebt.“ Der Mann trat dicht an Lys heran, er überragte ihn um mehr als einen Kopf. Es war ungewohnt für Lys, zu einem Menschen aufsehen zu müssen, da er selbst sehr hochgewachsen war. „Wir wissen, wer dieser Mann wirklich ist. Wir wissen, was er Euch bedeutet“, wisperte er in Lys’ Ohr, so leise, dass es selbst aus dieser Nähe kaum zu verstehen war. „Es geschieht gelegentlich, dass die Götter einem ihrer Kinder die Liebe zum eigenen Geschlecht mitgeben. Oft scheint dies nur eine Laune der Allmächtigen zu sein, die nichts mehr als die wunderbare Vielfalt lieben, doch manchmal entsteht aus einer solchen Liebe etwas, was das Schicksal vieler, vielleicht sogar aller Menschen beeinflussen kann. Ich kann und will
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