Jenseits der Eisenberge (German Edition)
wandte sich ab, nachdem er diese Worte deutlich betont gesprochen hatte, als müsste er einem Kind oder einem Schwachsinnigen etwas erklären. Schon nach wenigen Schritten war er nicht mehr zu sehen, als hätte ihn der Schnee verschluckt. Kirian spürte, wie es hinter seiner Stirn zu pochen begann. Irgendetwas war nicht in Ordnung, soviel war gewiss. Wie im Namen aller gehörnten und ungehörnten Schattenfresser war er hierhergekommen? Er konnte sich nicht erinnern.
„Zieh das an!“ Ruquinn war zurück und warf ihm einen schweren Mantel in den Schoss. Hastig hüllte Kirian sich darin ein, froh, zumindest etwas Schutz vor den eisigen Winden und dem Schnee zu haben. Die Stiefel, die er gegen seine leichten Lederschuhe eintauschen durfte, waren innen gefüttert und trocken. Seine Zehen schienen auch noch ein wenig Leben zu besitzen – sie protestierten gegen jede Bewegung. Ruquinn reichte ihm ein Bündel Stoff. „Hier, wickle das um die Hände, und dann auf! Du musst helfen, wie alle hier.“ Kirian mühte sich, doch seine Finger waren zu steif gefroren, als dass er damit die Lappen um seine Hände binden konnte. Fauchend vor Ungeduld riss Ruquinn den Stoff an sich und half Kirian.
„Glaub nicht, dass ich mir freiwillig so viel Mühe mit dir mache, Lamár! Es war anstrengend genug, dich heil und wie ein Säugling umsorgt bis hierher zu kriegen!“, zischte er. „Der Herr will es, also gehorche ich. Gewöhn dich schon mal dran, Sklave, du hast genau das Gleiche zu tun!“
Gewiss. Du hingegen solltest dich nicht zu sehr an den Gedanken gewöhnen, mich ungestraft schlagen zu können. Wenn ich die Gelegenheit habe, dich zu zerquetschen, werde ich es tun.
Kirian war klug genug, diese Gedanken nicht laut auszusprechen. Er senkte demütig den Kopf und ließ sich von dem Aufseher vom Karren zerren. Offenbar waren sie Teil einer Karawane. Kirian sah undeutliche Schatten von mindestens einem Dutzend Karren, die allesamt im Schneetreiben feststeckten, dazu Gestalten von Menschen, Pferden und blökenden Eseln. Sie mussten sich auf einem Gebirgspass befinden, hoch genug, um auch zu dieser Jahreszeit in einen Schneesturm geraten zu können. Kirian wusste es nicht sicher, doch eigentlich durfte es erst Frühsommer sein. Er hielt inne – warum wusste er das nicht? Warum erinnerte er sich nicht?
„Weiter, los!“ Ruquinn schubste ihn hart. Es wäre nicht allzu schwer gewesen, in diesem kopflosen Treiben zu fliehen. Weit wäre Kirian nicht gekommen, ohne Vorräte und geschwächt, wie er war. Also fügte er sich stumm in sein Schicksal. Ohne Widerstand half er mit, Zugtiere auszuspannen und eingeschneite Karren auszugraben. Seite an Seite mit fremden Menschen, die er noch nie zuvor gesehen hatte und deren Art zu sprechen ihm seltsam erschien. Die Anstrengung und hartnäckiger Schwindel ließen seinen erschöpften Körper fast zusammenbrechen. Der Sturm, der ihm Schnee ins Gesicht peitschte, brachte ihn immer wieder zum Schwanken, doch er hielt sich trotzig aufrecht. Bewegung half gegen die Kälte, und er wollte verdammt sein, wenn er freiwillig Ruquinn einen Grund gab, den Riemen gegen ihn zu schwingen!
„Gut so, Sklave.“ Sein Herr tauchte irgendwann erneut neben ihm auf und hielt ihm noch einmal die Tonflasche hin. Kirian schluckte das brennende Zeug tapfer. Es schmeckte diesmal scheußlicher als zuvor, aber es half ihm, nicht zu erfrieren.
„Danke, Mebana.“ Er wollte sich wieder seiner Schaufel zuwenden, doch der Mann hielt ihn auf.
„Geh dort rüber und iss etwas. Du bist zum ersten Mal seit über einer Woche auf den Beinen. Wenn du dich zu weit treibst, fällst du tot um. Ich denke, wir können dich jetzt ohne das Betäubungsgift lassen? Du wirst uns keinen Ärger mehr machen?“ Sein Tonfall ließ keinen Zweifel, dass er dies nicht als Frage meinte.
Kirian versuchte sich an den Triumph zu erinnern, wie er sich diesen Kerlen widersetzt hatte, doch alles, was vor seinem Erwachen im Schneesturm geschehen war, blieb unerreichbar fern von ihm. Alles!
„Ich gehorche, Mebana“, hörte er sich selbst sagen. Es missfiel ihm, aber es war tatsächlich vernünftig. Bis der Schneesturm sich legte, musste er auf jeden Fall hier bleiben. Und danach … abwarten. Er setzte sich zu einem kleinen Kreis vermummter Gestalten, die hinter einem Schutzwall hochgestapelter Kisten und Säcke kauerten. Man gab ihm Brot und lauwarmen Tee. Besser als nichts.
Wo waren sie, seine Erinnerungen? Jetzt, wo er zur Ruhe kam, erfüllte es
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