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Jenseits der Eisenberge (German Edition)

Jenseits der Eisenberge (German Edition)

Titel: Jenseits der Eisenberge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Gernt
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wäre gut, einer von ihnen werden zu dürfen.
     
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    „Steh still und denk dran, niemals hochzugucken, es sei denn, man fordert dich dazu auf!“, zischte Tiko in Lamárs Ohr. Es war der dritte Morgen seit seiner Ankunft bei den Minensklaven. Nach dem ersten Zusammenstoß hatte Tikos Verhalten sich ihm gegenüber allmählich geändert: Er akzeptierte Lamárs Anwesenheit und schien sich in den Kopf gesetzt zu haben, sein persönlicher Bewacher zu sein. Lamár amüsierte sich ein wenig über den Eifer des Jungen, der mit erzwungener Geduld versuchte, ihm alles zu erklären und von vorneherein zu vermeiden, was die Aufmerksamkeit der Wächter erregen könnte. Auch die anderen Sklaven schienen zumindest bereit, ihm Gelegenheit zu geben, sich zu bewähren. Sie nahmen Lamárs Anfälle hin, wenn er unter plötzlichen Schmerzattacken zusammenbrach, und dass er sich an nichts erinnern konnte, fanden alle faszinierend. Sie bestürmten ihn mit Fragen, in der Hoffnung, dass er vielleicht dadurch wieder zu sich fand, doch es schien die Anfälle zu verschlimmern, deshalb ließen sie bald davon ab.
    Irla hatte heute beschlossen, dass Lamár stark genug war, um voll arbeiten zu können, und darum stand er nun mit all den anderen Arbeitern vor der Hütte und wartete, dass die Aufseher sie abholten. Vor den fünf anderen Hütten standen ebenfalls Arbeiter bereit, die meisten würden allerdings nicht in der Mine eingesetzt werden, genauso wenig wie die Frauen aus Arkins Hütte. Viele mussten Feldarbeit leisten, alle anderen bekamen Einzelaufgaben: sei es Werkzeug schmieden, die Viehherden hüten, die ihnen zur Selbstversorgung überlassen worden waren, Stoffe weben – dieser Ort, der nicht einmal einen eigenen Namen besaß, war ein selbstständiges Dorf und kein Loch in der Erde, um das man ein paar Hütten gezimmert hatte. Arkin hatte ihm erzählt, dass hier bereits seit Jahrhunderten nach Eisenerz geschürft wurde. Schon Arkins Großeltern waren als Sklaven hergebracht worden und er selbst hier geboren. Es erschütterte Lamár tief in seinem Inneren, dass ein Mensch so vollkommen davon überzeugt sein konnte, sich als Sklave an seinem rechtmäßig angestammten Platz zu befinden. Für Arkin, Irla und die meisten anderen gab es keinen Zweifel daran, dass sie Besitztümer irgendwelcher Herren waren, die über ihr Leben und Schicksal entscheiden durften.
    Selbst die jüngsten Kinder wurden zu Arbeiten herangezogen, kaum dass sie abgestillt waren. Lamárs Blick fiel auf Marjis. Das kleine Mädchen war gerade mal vier Jahre alt, saß aber still und brav zwischen den älteren Kindern auf dem Boden und half, aus einem Haufen Gesteinsbrocken die besseren Erzstücke auszusortieren. Die Kleine war ihm gestern schon aufgefallen, weil sie noch stiller als alle anderen Kinder war, dazu kränklich und viel zu dünn wirkte.
    „Sie wird nicht lange überleben“, sagte Orchym neben ihm mit einem Schulterzucken. Sie verstanden sich recht gut, mit ihm konnte Lamár zumindest ernstere Gespräche führen als mit Tiko. „Hat ihre Mutter verloren, den Vater kannte sowieso keiner. War wohl einer der Wächter. Die Mutter ist vor ein paar Monaten zum Schilfschneiden geschickt worden und nicht wiedergekommen. War’n Unfall. Jedenfalls sagen das die Wächter.“ Er spuckte verächtlich aus. „Natürlich füttern die Frauen die Kleine, nur hier hat keiner Zeit, sich richtig um sie zu kümmern. Sie ist ein bisschen zu jung, wäre sie zwei, drei Jahre älter, würde sie es vielleicht schaffen.“
    Lamár sah noch andere Kinder wie Marjis, blasse Gestalten mit versteinerten Gesichtern und uralten Augen. Es drückte ihm das Herz ab, sie so zu sehen, aber er konnte ihnen nicht helfen. Er konnte nicht einmal sich selbst helfen.
    Pocil erschien, gemeinsam mit fast einem Dutzend Aufseher. Einige von ihnen kümmerten sich um die Arbeiter der anderen Hütten, Pocil selbst schritt mit fünf Männern die Reihe der Minensklaven ab.
    „Unser Neuerwerb gibt sich heute also die Ehre?“, fragte er spöttisch, als er vor Lamár stehen blieb. Tiko versteifte sich neben ihm. Er war schon den ganzen Morgen in größter Sorge, dass Lamár ausrasten könnte, obwohl der dem Jungen die ganze Zeit noch keinen Grund dafür geliefert hatte. Lamár hielt den Kopf gesenkt, wie es von ihm erwartet wurde.
    „Ja, Herr“, flüsterte er demütig.
    „Du weißt aber noch, warum du hier bist? Oder bist du tatsächlich so schwachsinnig, dass du dir nicht mal den Weg zur Latrine

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