Jenseits der Eisenberge (German Edition)
Räuber Albor zu Tode foltern! Und wie sehr hatten sie gestaunt, als sie verstanden, dass er lediglich sein mitfühlendes Wesen hinter zahlreichen Masken versteckte. Wie viel Kraft und Schonungslosigkeit nötig waren, damit es ihm auch gelang. Es gab niemanden in der Lichterfelser Abordnung, der nicht jederzeit sein Leben für Lys fortwerfen würde. Dass Nikor und er ihn auf dieser hoffnungslosen Suche nach Kirian begleiten durften, war eine Ehre, um die nicht wenige sie beneideten. Dennoch regten sich im Augenblick leise Zweifel, ob es nicht besser gewesen wäre, Lys davon abzubringen, zur Not mit Gewalt. Er traute diesem Priester nicht, der so anders war als alle Götterdiener, die er jemals gesehen hatte. Für Erek waren Geweihte freundliche, ein bisschen weltferne Wesen, die sich sowohl dem Dienst an hilfsbedürftigen Menschen als auch dem Glauben widmeten. Lark schien ihm zu mürrisch, als dass er jemals Waisen getröstet oder Kranke gepflegt haben könnte. Erek erinnerte sich an geflüsterte Erzählungen der Alten über Priester, die mit unheiligen Kräften paktiert, Schattenfresser in die Welt der Sterblichen geholt und grässliche Rituale durchgeführt hatten. Niemand glaubte so wirklich daran, und doch war da die Angst in den Augen seiner Urgroßmutter, einer Bäuerin, die zehn Kinder geboren und allesamt begraben hatte, von ihr genommen durch Hungersnot oder Krieg. Diese Frau hatte nichts und niemanden gefürchtet und sich über hundert Jahre lang zäh an ihr Leben geklammert. Wann immer sie aber einen Priester auf der Straße sah, schlug sie ein Schutzzeichen …
„Da vorne ist der Tempel“, sagte Lark plötzlich. Erek sah sich suchend um, doch es dämmerte bereits, und er konnte nichts erkennen, bis sie schon fast vor dem Tor angekommen waren.
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Lark verhielt im Schritt und blickte sich im Tempelhof um. Es war alles ruhig, nahezu alle Geweihten schliefen um diese späte Stunde.
„Seid leise“, bat er die Männer, die er hierher geführt hatte. Hier, zwischen Himmel und Erde, war der wichtigste Tempel des Götterpaares von Onur zu finden. Die Menschen der Umgebung kannten ihn und kamen gerne zum Gebet oder um Rat zu erbitten. Doch kaum ein Nichtgeweihter wusste von seiner Bedeutsamkeit, wie auch viele andere Dinge vor den einfachen Menschen geheim gehalten wurden. Vor langer Zeit hatten die Diener der Götter offen unter den Menschen gelebt; es gab keine Tempel, lediglich Schulen, in denen magisch begabte Novizen ausgebildet wurden, die anschließend durch die Welt zogen. Lark wusste nicht, wann oder wodurch die Angst entstanden war, Angst vor der Macht und dem Wissen der Priester. Wann sich diese Angst in Hass wandelte, wusste er hingegen schon: Vor rund dreihundert Jahren begann das Morden. Priester und Priesterinnen wurden von einem entfesselten Mob regelrecht in Stücke gerissen, lebendig begraben, in Schluchten gestürzt oder willkürlich irgendwelcher Verbrechen angeklagt und zu Tode verurteilt. Lanur VII., ein Vorfahr von König Maruv, hatte schließlich dem Treiben ein Ende gesetzt. Er war ein frommer Mann, doch ein schwacher Herrscher, nicht in der Lage, die Gottesdiener wirksam zu beschützen. Auf seinem Befehl hin wurden Tempel erschaffen, in denen die Priesterschaften von der Außenwelt abgeschottet zu leben hatten. Im Laufe einer einzigen Generation geriet die Angst der Menschen in Vergessenheit, genauso wie das Wissen um die besonderen Fähigkeiten, die Geweihte besaßen …
„Hier herüber, ihr könnt die Pferde unbesorgt zurücklassen“, flüsterte Lark und führte die drei Männer zum Stall des Klosters. Der junge Fürst war zuerst ein wenig unglücklich gewesen, als es hieß, dass die Pferde nicht mitgenommen werden konnten, doch er hatte sich der Vernunft gebeugt. Seine Begleiter waren ihm völlig ergeben. Sie hatten mit keinem Wort widersprochen, sobald Lys sein Einverständnis gegeben hatte, obwohl sie ihm, Lark, misstrauten. Vor allem der Ältere der beiden. Lark war wider Willen beeindruckt von Lys. Er hatte nach der ersten Begegnung ein falsches Bild von ihm gehabt, was ihm äußerst selten geschah. Nein, es war überhaupt noch nie geschehen! Er war ein Fürst, kein hübscher Junge; wer das nicht erkannte, machte einen Fehler.
Jemand wie Lys gehörte seiner Ansicht nach zwar eher hinter als auf den Thron, doch er traute ihm zu, dass er auch diese Herausforderung meistern könnte – vorausgesetzt, er überlebte seine unselige Suche.
„Ihr solltet Euch
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