Jenseits der Eisenberge (German Edition)
wenigstens für einige Stunden ausruhen“, sagte er, „es ist nicht ratsam, unter dem Berg zu schlafen. Wenn wir also den Weg in die Dunkelheit beginnen, können wir erst auf der anderen Seite wieder rasten.“
„Wie lange wird es dauern?“, fragte Lys ruhig, als seine Begleiter einen nervösen Blick tauschten.
„Etwa zehn Stunden, wenn es keine Schwierigkeiten gibt.“
„Dann sollten wir uns jetzt tatsächlich schlafen legen.“ Lys nickte ihm zu, während er die letzten Handgriffe ausführte, um sein Pferd zu versorgen; danach ergriff er sein Bündel und trat zu ihm heran.
Lark führte die drei Männer in ein niedriges, aus hellem Gestein erbautes Nebenhaus der Tempelanlage, das für Gäste vorbehalten war. Er scheuchte Novizen umher, damit sie jeder eine kleine Schlafkammer erhielten, mit Essen, Wasser und auch sonst allem, was sie für ihren kurzen Aufenthalt benötigten, versorgt waren und verließ sie mit dem Versprechen, sie nach Sonnenaufgang abzuholen. Dann betrat er den Haupttempel.
Es war ein seltsames Gebäude, dem man seine hohe Bedeutsamkeit nicht auf den ersten Blick anmerkte. Wie alle Tempel Onurs war der untere Teil den Priesterinnen der Erdmutter vorbehalten. Der Boden bestand hier aus gestampftem Lehm, die Wände aus roh behauenen Steinen. Von außen umwucherten verschiedene Rankpflanzen den Tempel, die so gewählt waren, dass zu jeder Jahreszeit, selbst im Frost, Blüten für berauschende Farb- und Duftvielfalt sorgten. Innen gab es zahlreiche Wasserspiele und Springbrunnen, die gemeinsam mit den Pflanzen, die überall aufgestellt waren, das Gefühl vermittelten, in einen urtümlichen Wald geraten zu sein. Moos und Algen durften ungehindert an den feuchten Steinwänden wuchern und niemand störte sich an den Insekten, Vögeln und kleinen Nagetieren, die hier ihre Heimat gefunden hatten. Die Priesterinnen beteten und schliefen häufig im Freien und bestimmten über die Felder und Nutzgärten im Tal, die sie gemeinsam mit den Priestern bestellten. Die männlichen Geweihten bewohnten den oberen Teil des Tempels, der von einer hohen Kuppel gekrönt wurde, als bescheidene Nachahmung der Himmelswölbung. Sie beobachteten sorgfältig den Lauf der Sterne und bewahrten zahlreiche Schriftwerke auf, geschützt von sündhaft teuren Glasplatten, die Staub, Feuchtigkeit und Mäuse fernhielten. Lark gehörte nicht zu den Wenigen, die Glas zu blasen und zu formen verstanden. Er tarnte sich häufig als wandernder Tischler, wenn er nicht als Priester erkannt werden wollte, und er hatte das Uhrmacherhandwerk erlernt – das ihm im rückständigen Onur nichts nutzte, Uhren wurden hauptsächlich in seiner Heimatstadt Rashmind genutzt. Trotzdem leitete er die kleine Werkstatt des Tempels, da er das Talent besaß, vertrauenswürdigen Zwischenhändler zu finden. Mit ihrer Hilfe trugen die Priester mit ihren Kunstwerken zum Lebensunterhalt aller bei. Lark lächelte, als er auf der Treppe im Zwischengeschoss kurz verharrte und einen Säugling schreien hörte. Es wurde nicht ausdrücklich gefördert, aber es war auch nicht verboten, geschweige denn zu verhindern, dass Priesterinnen und Geweihte sich näher kamen.
Die Kinder dieser Verbindungen wuchsen im Tempel auf, gemeinsam mit Waisen und ausgesetzten Säuglingen, die immer wieder ihren Weg hierher fanden.
Lark erreichte den obersten Gang, in dem sich die Schlaf- und Arbeitskammern der hochrangigen Geweihten befanden. Wie er es sich gedacht hatte, war der Aounfrer , das Oberhaupt aller Priester des Himmels von Onur, noch nicht schlafen gegangen, sondern wartete auf ihn. Niemand wusste genau, wie alt Onjerro sein mochte, er hatte jene alterslose Ausstrahlung, die viele Priester besaßen. Aus der Ferne mochte man den großen, kräftigen Mann mit wirren braunen Haaren für einen Jungen von etwa zwanzig Jahren halten; aus der Nähe erst sah man die vielen Falten, die von der Zeit in sein Gesicht gegraben wurden, und die grauen Strähnen an den Schläfen.
„Was denkst du über ihn?“, fragte Onjerro nach der Begrüßung.
„Er ist zerrissen zwischen Herz und Geist, Herr. Er will seinen Liebsten um jeden Preis wiederfinden, aber er weiß nur zu genau, wie viel er hier zurücklässt. Und möglicherweise opfern muss.“
Der alte Priester nickte Lark zu. „Ich beobachte ihn seit dem Tag seiner Geburt. Er würde von der Suche ablassen, wenn die Not es erfordert, doch es würde ihn vernichten. Wenn er uns nützlich sein soll, müssen wir ihn also ziehen
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