Jenseits der Eisenberge (German Edition)
den Blick fest zu Boden gewandt. „Vielleicht hat Shenia ja überhaupt gar nicht nach ihm geschlagen. Es wäre doch denkbar, dass er sie mit Gewalt nehmen und sie vor ihm fliehen wollte. Beim Versuch sie festzuhalten könnte Namir gestolpert und so unglücklich mit dem Kopf aufgeschlagen sein, dass er an dieser Verletzung gestorben ist. Shenia war völlig aufgelöst und zerrte ihn auf ein Bettlaken. Damit wollte sie ihn nachts aus dem Haus bringen und irgendwo draußen ablegen, dann hätten alle gedacht, Namir wäre überfallen worden. Natürlich war sie viel zu schwach und schaffte es gerade mal bis dahin, wo auch immer man ihn gefunden hat. Noch kopfloser als zuvor versteckte Shenia also das Bettlaken.“ Lys musste sich ein freudloses Grinsen verkneifen – er ging felsenfest davon aus, dass zumindest der Teil mit dem Bettlaken genau dem entsprach, was tatsächlich geschehen war.
„Nun hatte sie also eine Leiche und vielleicht ein brüllendes Kind dazu, jede Menge Blut an den Händen und keine Aussicht auf Flucht oder Entkommen. Niemand würde ihr glauben, dass es ein tragischer Unfall gewesen war! Da ist sie darauf verfallen, es als Kampf darzustellen, eben zu behaupten, sie hätte ihn aus Not erschlagen, weil er ihr Kind umbringen wollte; hat ihn mit Schnaps begossen, oder na ja, vielleicht hatte er ja tatsächlich vorher getrunken.“
Beide Männer glotzten ihn sprachlos an, dann schüttelte Kumien langsam den Kopf.
„Hat man die Waffe gefunden, mit dem sie ihn totgeschlagen hat?“, fragte er Feron.
„Was? Ich – nein, sie sagte, sie hat eine Holzschale genommen und diese hinterher im Herdfeuer verbrannt“, erwiderte der langsam. Er durchbohrte Lys mit einem messerscharfen Blick. „Sklaven, die klüger sind als ihre Herren, bekommen für gewöhnlich die Zunge herausgeschnitten“, sagte er voller Abscheu.
Lys sank sofort zu Boden und klammerte sich an Kumiens Füße. Seine Kehle war wie zugeschnürt vor Angst, er wusste, er war zu weit gegangen. Dass Kumien ihn verstümmeln könnte, befürchtete er nicht, aber niemand würde mehr glauben, dass er war, was er vorgab zu sein …
„Vergib meinen Sklaven, er ist der Bastard eines Adligen aus Onur, wo Lügengespinste und Intrigen als Vergnügen dienen“, hörte er Kumien sagen. „Dafür musste ich ihm erst beibringen, wie ein anständiger Mensch zu Tisch isst – kannst du dir vorstellen, dass selbst der König von Onur mit bloßen Fingern speist? Da drüben können sie kaum lesen oder schreiben, es sind geistlose Barbaren mit Geschick für Lügengeschichten. Was in diesem Fall recht nützlich ist, Feron.“
Der Alte schnaubte verächtlich, ließ es allerdings auf sich beruhen. „Es könnte sich tatsächlich so abgespielt haben, wie er sagt, nicht wahr? Man muss Shenia beibringen, dass sie es genau so erzählt und nicht davon abweicht.“
Der Layn trat leicht gegen Lys, der sich sofort auf die Knie kauerte. „Du kannst dich anscheinend nicht angemessen benehmen. Geh in mein Gemach und warte dort, bis ich komme und dir Manieren beibringe!“
Lys verneigte sich tief, dann eilte er Treppe hinauf. Er hörte noch, wie Feron sagte: „Hübsch für einen Barbaren, aber untragbar, Mebana. Ihr solltet ihn loswerden!“
16.
Es waren viele Stunden vergangen, als Lys hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Er hatte sich den ganzen Tag über nicht aus dem Schlafgemach gewagt und keinen Bissen gegessen. Die Gewissheit, durch seine Eitelkeit sich selbst und damit auch Kirian verraten zu haben, fraß ihn innerlich auf. Hinzu kam Wut auf sich selbst, dass er nicht wenigstens ein einziges Mal Kumiens Liebe erfahren hatte. Die unerfüllte Sehnsucht war kaum weniger stark als seine Furcht.
Sobald er sah, dass es tatsächlich Kumien war, sank er auf die Knie und erwartete sein Schicksal, das sich drohend über ihm aufbaute.
Kumien betrachtete den jungen Mann, der dort bleich, aber gefasst vor ihm kniete. Ereks’ Klugheit hatte tatsächlich ein unschuldiges Leben gerettet. Man hatte Shenias zerschlagene Gestalt präsentiert und sie ihre Geschichte erzählen lassen. So leicht, wie sie die Version wiederholen konnte, die Erek „erfunden“ hatte, zweifelte Kumien nicht mehr daran, dass es sich so ähnlich abgespielt haben musste. Dann hatte Feron das Wort ergriffen. Es war erstaunlich einfach für ihn gewesen, alle davon zu überzeugen, dass Shenia viel zu schwach war, um einen tapferen Mann wie Namir zu töten, und niemals gewagt hätte, ihn auch nur im
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