Jenseits der Eisenberge (German Edition)
Warum?“
„Hat Feron gesehen, was ihr angetan wurde?“ Lys blickte überall hin, nur nicht in Kumiens Gesicht.
„Noch nicht, ich werde die Wunden dieser Frau bei der Rechtsfindung zeigen lassen.“ Kumiens Stimme zeugte von seiner Ungeduld.
„Nun, in der Gruppe ist es leichter, Betroffenheit zu verstecken. Sicher wird sich Feron dann nicht vor seinem Sohn und dem Rest der Familie schwach zeigen wollen und die Qualen der Frau demnach nicht als Rechtfertigung anerkennen.“ Lys schmeckte Blut, er hatte sich mal wieder die Lippen zerbissen vor Wut auf sich selbst. Warum sprach er immer wie ein Gelehrter? Er wagte einen kurzen Seitenblick auf den Layn, der ihn nachdenklich musterte.
„Du hast recht, Erek. Es ist zwar nicht üblich, aber wer sollte es mir verbieten …“, murmelte er. Dann klatschte er laut in die Hände, worauf sich sofort einer der Wächter von der Wand löste, wo er – außer Hörweite ihrer leisen Diskussion – still gestanden hatte.
„Man soll Feron vom Clan der Alturek zu mir bringen, und nur ihn allein!“ Er wandte sich zu Lys und zischte ihm zu: „Du bleibst bei mir und benimmst dich, wie es sich gehört.“
Lys nickte hastig. Wann immer er in den vergangenen Wochen Kumien begleitet hatte, war er als Spielzeug des Layns überall geduldet worden. Er musste sich stillschweigend und bescheiden wie ein Sklave im Hintergrund halten, um auf den geheimsten Versammlungen gestattet zu werden. Auf Lys’ Frage, was geschah, wenn ein fremder Herrscher einen solchen Sklaven entführte, um an nützliches Wissen zu gelangen, hatte Kumien nur abgewunken – „Das hier ist nicht Onur, wir besitzen Ehre! Niemand vergreift sich an Liebessklaven!“ Irgendwie zweifelte Lys daran, obwohl er sich eingestehen musste, dass wenige zu glauben schienen, dass ein Sklave überhaupt so etwas wie Verstand besaß.
Feron war ein schmaler, kleinwüchsiger Mann von etwa sechzig Jahren, mit kahlem Schädel und struppigem Graubart. Lediglich seine intelligenten schwarzen Augen verrieten, dass er kein harmloser Alter war. Seine scharf geschnittenen Gesichtszüge zeigten Wut und Anspannung, doch er verneigte sich ehrerbietig vor seinem Fürsten.
„Warum verlangt mein Layn nach mir, so kurz vor einer Rechtsfindung? Was könnte wichtiger sein als die Mörderin meines Enkels zu verurteilen?“, fragte er mit hoher Stimme und so starkem Akzent, dass Lys ihn kaum verstand.
„Ich wünsche dir etwas zu zeigen, was wichtig für eben diese Rechtsfindung ist. Folge mir!“, erwiderte Kumien harsch und stürmte dann mit solch langen Schritten voraus, dass Feron ihm kaum folgen konnte. Als sie sich den Verliesen des Palastes näherten, blieb der Alte allerdings stehen und rief: „Wollt Ihr mich etwa zu der Mörderin bringen? Wozu?“
Kumiens Miene verfinsterte sich. „Du wirst diese Frau nicht anrühren, und du wirst mir gehorchen!“
Danach beachtete er Feron nicht mehr, bis der Kerkerwächter die Tür geöffnet hatte, die sein Ziel gewesen war.
Lys fühlte sich, als hätte er einen Schlag in den Magen erhalten. In dem winzigen düsteren Verlies hockte die Angeklagte am Boden, sie presste einen Säugling an ihre Schulter. Es war keine Frau, sondern ein Mädchen von höchstens fünfzehn Jahren, die zerbrechliche Gestalt in zwar saubere, doch viel zu weite Kleider gehüllt. Ihr schwarzes langes Haar war völlig verfilzt, das Gesicht zeigte Spuren unerbittlicher Gewalt. Ihre Augen blickten leer in die Ferne.
Auch Feron erstarrte, als er dieses Kind sah.
„Shenia?“, fragte er heiser. Er fuhr herum zu dem Kerkerwächter, der hastig von der Tür verschwand, schaute dann vorwurfsvoll Kumien an. „Wieso wurde sie so misshandelt? Sie mag schuldig sein, aber es war unnötig, sie schon jetzt zu schlagen!“
Kumien lehnte sich gelassen an die Kerkerwand und zuckte die Schultern.
„Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?“, fragte er.
„Vor zwei Jahren, bei der Hochzeit. Das ist unerheblich, was …“ Doch Kumien ließ ihn nicht aussprechen.
„Sie wurde gestern Nacht hierhergebracht, und zwar ganz genauso, wie du sie jetzt siehst. Niemand in diesem Palast hat sie geschlagen, im Gegenteil: Eine Kerkermagd hat ihr geholfen sich zu waschen und ihr saubere Kleider gegeben.“
Er wandte sich dem Mädchen zu. „Shenia, steh auf und zieh dich aus“, befahl er leise.
Sie gehorchte sofort, ohne ihn anzublicken. Als sie ihr schlafendes Kind auf den Boden legen wollte, trat Lys unwillkürlich vor. Sie zögerte kurz,
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