Jenseits der Eisenberge (German Edition)
zeigte zum ersten Mal überhaupt eine Gefühlsregung, als sie ihm das Kind in die Arme legte. Lys schritt sofort wieder zurück, soweit der Raum dies zuließ, ohne sich zu vergewissern, ob Kumien zornig auf ihn war. Es war ein vertrautes Gefühl, dieses winzige Wesen zu halten, es weckte Sehnsucht nach seinem eigenen Kind, mit solcher Macht, dass Lys um seine Beherrschung kämpfen musste. Wie lange hatte er Lynn nicht mehr gesehen? Ob sich sein Sohn überhaupt noch an ihn erinnerte?
Das Kind schlief friedlich weiter, er war froh, dass es gut genährt und gesund wirkte.
Shenia hatte derweil die Kleider abgelegt und stand mit gesenktem Kopf da. Kumien hatte nicht übertrieben, sie war grausam zugerichtet. Kaum ein Fleck ihres mageren Körpers war frei von Narben, alten und frischen Wunden. Man sah Spuren von Tritten und schwarz verfärbte Abdrücke an ihren Hüften, wo ihr Peiniger sie offenkundig von hinten gepackt und gehalten hatte. Betroffen löste Feron den Blick von ihr. Kumien hielt Shenia das Kleid hin und nickte ihr zu. Nachdem sie sich wieder verhüllt hatte, gab Lys ihr das Kind zurück; auf Kumiens Wink verließen die drei Männer dann das Verlies.
Feron schwieg, bis sie den mittleren Treppenabsatz erreichten. Es lagen noch zwanzig Stufen vor ihnen, bis sie wieder die Palasthallen betreten würden und ebenso viele hinter ihnen – hier konnten sie einigermaßen sicher sein, von niemandem belauscht werden zu können.
„Mebana …“, sagte er leise, und hielt Kumien am Ärmel fest. „Ich wusste, dass mein Enkel sie schlägt, wir alle wussten es. Mein Sohn hat ihn dafür getadelt und der Junge hatte versprochen, sich besser zu beherrschen. Er war noch so jung, kaum älter als Euer Sklave dort. Wir hatten ihn in der Hoffnung verheiratet, dass er dadurch ruhiger werden würde, er war immer schon jähzornig gewesen. Mein Sohn hatte mir versichert, Namir wäre seit der Geburt seiner Tochter friedfertiger geworden und ich hatte es geglaubt. Sonst hätte ich ihn doch niemals zum Nukir erhoben!“ Feron ballte wütend die Fäuste. „Anscheinend hat man mich genau deswegen belogen.“
„Aus diesem Grund solltest du sie auch allein sehen“, sagte Kumien. „In der Rechtshalle hätte man dir zu leicht Schwäche vorwerfen können, wenn du Betroffenheit oder Gnade gezeigt hättest.“
„Aber was soll ich jetzt tun?“, fragte Feron ratlos.
„Sag ihnen die Wahrheit, nun, zumindest den größten Teil davon. Sag ihnen, ich hätte dich rufen lassen, um das Schicksal deiner Urenkelin schon im Vorfeld zu klären, damit man keinen Säugling in die Rechtshalle bringen müsste. Du hast darauf bestanden, das Kind selbst zu holen und dabei Shenia in Tränen aufgelöst gefunden. Wir beide haben sie daraufhin verhört, und sie hat so glaubhaft versichert, dass sie Namir nicht absichtlich ermordet hat, dass du ihr glaubst. Dein Wort gilt für den Clan. Shenia muss Blutgeld zahlen, weil sie in Notwehr getötet hat, wird aber nicht hingerichtet.“
Feron nickte langsam. Lys stöhnte unterdrückt, er wusste, dieser Plan konnte nicht gelingen. Es würden immer Zweifel bleiben, weil da ein verstecktes blutiges Bettlaken war, weil der Bruder und vermutlich auch der Vater des Toten keine Ruhe geben würden, bis Shenia selbst irgendwann von irgendjemandem totgeschlagen werden würde. Das wäre dann gerechte Rache , wie man es insgeheim nennen würde, und der Mörder würde von allen anderen geschützt werden.
Erst als er von Kumien hart am Arm gepackt wurde und Ferons missbilligenden Blick bemerkte, wurde Lys klar, dass er zu laut reagiert hatte. Erschrocken wollte er sich zu Füßen des Layns niederwerfen, doch Kumien hielt ihn fest.
„Sprich es aus!“ Der Befehl war so zwingend, dass Lys ihn nicht verweigern konnte. „Was denkst du, Erek?“
„Mebana, vergebt mir“, begann er gepresst. „Auf diese Weise würden Zweifel an Shenia zurückbleiben.“
„Das ist wahr, aber nicht zu ändern, oder? Wenn das Clanoberhaupt und der Layn ein gemeinsames Urteil gesprochen haben, müssen alle es hinnehmen. Wenn ich sage, sie ist keine Mörderin, darf niemand sie jemals so nennen!“, grollte Feron.
Lys wand sich innerlich, fügte sich aber dann ins Unvermeidliche – wenn er sich diesmal noch retten konnte, würde Kumien ihn eben morgen enttarnen; es gab kein Entrinnen. Warum also nicht jetzt untergehen und dafür möglicherweise eine Unschuldige retten?
„Vielleicht ist ja etwas ganz anderes geschehen“, sagte er leise,
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