Jenseits der Finsterbach-Brücke
Meistens hatten die Postboten eine Menge Pakete bei sich und stapelweiseBriefe, die sie wohl sammelten, damit sie nicht dauernd den weiten Weg zu uns hinausfahren mussten. Der Postbote heute hielt jedoch nur einen einzigen Brief in der Hand.
Er musterte mich durch seine dicken Brillengläser und nieste. »Bist du Lasse Windström?«, fragte er gedämpft durch den Schal, den er bis über die Nase gezogen hatte.
»Ja«, sagte ich. »Und Sie sind erkältet, was?«
»Aller… ha… dings … tschi!«, sagte der Postbote und schniefte. »Du bist sicher, dass du Lasse Windström bist?«
»Ja, natürlich«, sagte ich. »Ich bin es immerhin schon seit zwölf Jahren.«
»Man kann sich nie ganz sicher sein«, sagte der Postbote hartnäckig. »Hier steht, der Brief wäre nur persönlich an Lasse Windström abzugeben.«
Wer, dachte ich, schrieb mir einen Brief? Ich kannte niemanden draußen. Ich hatte ehrlich gesagt bisher nur Briefe von Flint bekommen, wenn er wieder einmal auf Reisen gewesen war.
»Ich schwöre bei den Federn des Kjerks«, sagte ich feierlich, »dass ich Lasse Windström bin.«
»Bei was … hatschi! … für Federn?«, fragte der Postbote. Aber dann gab er mir den Brief doch, zog seinen Schal noch ein wenig höher, rückte die dicke Brille zurecht und verabschiedete sich mit einem letzten Nieser.
»Sie können Kaffee kriegen, drüben bei Frentje«, bot ich ihm an. »Sie hat immer Kaffee für unsere Postboten und meistens gibt es auch Kuchen. Frentje backt den allerbesten Kuchen der Welt.«
»Schade, aber ich muss weiter«, sagte der Postbote. Er stieg auf ein Moped mit gelben Taschen, in denen wohl weitere Briefe steckten, winkte noch einmal und fuhr vom Hof. Und zum ersten Mal dachte ich, dass er wahrscheinlich in Joerns Welt fuhr. Der Norderhof und der Norderwald waren nur Inseln mitten in einer Welt aus Postboten und schwarzen Städten und Gefahren, dunkler und hässlicher als ein Kjerk.
»Mach ihn schon auf!«, drängte Joern und gab mir das Messer.
Ich wog den Umschlag in meiner Hand. Er war ganz leicht, doch ich spürte gleich, dass etwas Bedeutsames darin auf mich wartete. Auf mich und meinen Freund. Ich nahm das Messer mit dem kjerkfarbenen Griff und schlitzte den Umschlag behutsam auf. Ein einziges Blatt segelte heraus in den Staub und Joern hob es auf und las vor:
»Kein Messer ist scharf genug …«
Da erschrak ich, denn woher konnte der Briefschreiber wissen, dass wir gerade heimlich ein Messer geliehen hatten?
»… kein Pfeil fliegt weit genug«, las Joern weiter, »kein Pferd läuft schnell genug. Kein Herz ist mutig genug. Kein Mensch kann den Kjerk töten. Es gibt nur einen, der das kann.«
Ich riss Joern den Brief samt Umschlag aus der Hand. Er war mit dem Computer geschrieben, auf nichtssagendes weißes Papier.
»Er zieht durch die Wälder«, las ich weiter, »bei Nachtund bei Tag. Er kommt, wenn keiner ihn sieht, und geht, wohin niemand ihm folgen kann. Er wird um einen Tropfen Blut bitten: Blut vom Herrn des Waldes, in dem er jagt. Nur so kann er den Wald befreien. Er bleibt nicht und kehrt nicht zurück. Er fragt nicht und antwortet nicht. Er liebt nicht und hasst nicht. Man nennt ihn den Weißen Ritter.«
Ich ließ den Brief sinken und sah Joern an. Über meinen Rücken lief ein Schauer, so wie es bei den Leuten in den Büchern geschah, die Flint und ich uns an dunklen Winterabenden gegenseitig vorlasen.
»Der Weiße Ritter«, flüsterte ich.
Joern nickte. »Ein gutes neues Wort für dich, Lasse«, sagte er. »Der Finsterbach und die Todesschlucht und der Weiße Ritter.«
»Machst du dich lustig über mich?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Joern. »Ich frage mich nur ein paar Dinge …« Er schüttelte den Kopf, als wollte er einen Gedanken loswerden, der ihm nicht behagte. »Ach was. Ich bin nur noch nicht an diese Welt gewöhnt. In meiner Welt gibt es keine Weißen Ritter und keine Briefe, die geschrieben sind wie Gedichte.«
Ich drehte den Umschlag um. Es stand kein Absender darauf. Der Poststempel war verschmiert; man konnte den Namen des Ortes nicht lesen, in dem der Brief eingeworfen worden war.
»Ich glaube diesem Brief nicht«, sagte ich. »Warum sollen wir den Kjerk nicht töten können? Wir werden nicht nurJohann beweisen, dass er unrecht hatte. Wir werden es dem Briefschreiber gleich mitbeweisen.«
Ich steckte den Brief ein. Joern schob den Umschlag in seine Hosentasche.
Konnte es sein, dass Flint den Brief geschrieben hatte, damit wir
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