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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Wind aus der falschen Richtung und er roch uns nicht. Ich zog einen Pfeil aus dem Köcher. Meine Finger zitterten.
    Wohin sollte ich zielen? Wo war das Herz des Kjerks? Und dann kam mir ein fürchterlicher Gedanke: Hatte er überhaupt ein Herz? Was, wenn in dem Brief die Wahrheit gestanden hatte? Wenn man den Kjerk nicht töten konnte, weil er gar kein Herz besaß?
    Ich versuchte den Pfeil trotz meiner zitternden Finger einzuspannen und in diesem Moment drehte der Kjerk seinen Kopf und sah uns an. Seine Augen waren wie dunkle Löcher. Nein, dachte ich, er hatte sicherlich kein Herz. Mein eigenes Herz schien zu gefrieren wie der Bach im Winter und ich spürte, dass auch Joerns Herz gefror.
    Jetzt kommt er über die Lichtung, sagte ich mir. Jetzt kommt er, um denen, die ihn zu stören wagen, ein Ende zu bereiten. Doch er kam nicht. Er bog den Hals nach hinten, öffnete das Maul weit, weit und stieß mit einem fürchterlichen fauchenden Geräusch eine hell lodernde Flamme aus.
    Die Flamme schoss hoch hinauf in den Himmel. Die Luft des Waldes schien mit einem Mal zu kochen und es roch wieder nach etwas, das ich nicht einordnen konnte, obwohl ich es kannte. Der Kjerk schickte der ersten eine zweite und eine dritte Flamme nach, wütend und grell, und meine dummen Finger zitterten noch mehr.
    Ich kann nicht auf ihn schießen, dachte ich. Er ist zu gewaltig. Zu mächtig. Zu schrecklich. Warum ist Flint nicht hier? Flint schießt besser als ich. Flint sollte dies hier tun, nicht ich. Ich kann nicht. Doch an meiner Seite stand Joern, mein Freund, und vertraute mir. Er konnte ja schlecht das Messer auf den Kjerk werfen, blauer Griff hin oder her. Ich kann nicht, dachte ich wieder, ich kann nicht – ich kann. Ich spannte die Bogensehne und kurz darauf flog der Pfeil durch die verbrannte Luft, so schnell, dass man ihn kaum noch sehen konnte.
    Er traf den Kjerk mitten in die Brust, mitten zwischen die nachtblauen Federn.
    Er senkte den Kopf, schüttelte ihn, schloss das Maul und ich erwartete, er würde brüllen. Doch er blieb stumm. Schwerfällig drehte er sich, schien zu straucheln und machte ein paar Schritte seitwärts, als wäre sein Körper auf einmal eine zu große Last für seine Beine. Schließlich brach er krachend neben dem Felsenhügel ins Unterholz. Für einen Moment tat er mir leid.
    Dann war er verschwunden. Einfach so.
    »He, Lasse«, sagte Joern, »wohin ist er …?«
    Wir schlichen am Rand der Lichtung entlang und meine Hand, die den Pfeil abgeschossen hatte, schmerzte, als müsste ich die Schmerzen des Kjerks fühlen. Meine Beine wollten nicht vorwärtsgehen. Joern musste mich beinahe hinter sich herziehen.
    Wo war der Kjerk? Er konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben? Hatte ich ihn getötet? Ich hatte noch nie ein Lebewesen getötet, außer vielleicht die Stechmücken im Sommer, aber die zählten nicht.
    Wir begriffen erst, was geschehen war, als wir die Stelle erreichten, wo der Kjerk zusammengebrochen war. Dort klaffte ein schwarzer Eingang im Felsenhügel, ähnlich dem Loch, das nur die Füchse benutzten. Diese Öffnung jedoch war von Menschen gemacht. Es war eine Tür, eine offene niedrige Tür aus dicken Holzbalken. Dahinter führten alte gemauerte Stufen in den Berg.
    »Ein Bunker!«, sagte Joern. »Da haben wir endlich mal eine Sache, die aus dem Krieg stammt, so wie sie es auf den Schildern behaupten.«
    »Johann scheint nichts davon zu wissen«, flüsterte ich. »Oder?«
    »Oder er hat gedacht, ein Tier kann so eine Tür nicht öffnen«, sagte Joern.
    Ich holte die Taschenlampe hervor und ihr Strahl zitterte in meinen Fingern so sehr, dass Joern sie mir aus der Hand nahm, um die Treppe hinabzuleuchten. Es gab eine Menge Spinnweben und Dreck dort unten. Aber keinen Kjerk.Nicht, so weit wir sehen konnten. Nach ein paar Stufen führte die Treppe allerdings um die Ecke.
    »Da irgendwo ist er«, flüsterte Joern. »Meinst du, er stirbt?«
    »Ich hoffe nicht!«, sagte ich aufrichtig. »Nein, ich hoffe doch! Ach, ich weiß nicht! Bis vor Kurzem gab es den Tod gar nicht hier im Norderwald. Oder jedenfalls nicht so eine Sorte von Tod. Und plötzlich ist er überall.«
    Mir war danach, mich einfach auf den Boden zu setzen und aufzugeben. Aber Joern sah mich fest an und sagte: »Denk an die Lämmer. Denk an Westwind. Wir sollten nachsehen.«
    Und da dachte ich an die Lämmer und ich dachte an Westwind und wir stiegen hinab in die Finsternis.

Er zieht durch die Wälder, bei Tag und bei Nacht
    D ie

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