Jenseits der Finsterbach-Brücke
Finsternis war sehr, sehr finster.
Wir lehnten die Tür hinter uns an und es fiel nur ein schmaler Streifen Licht durch den Spalt. Die Lampe malte einen hellen Kreis auf die feuchten Stufen.
»Stell dir vor«, flüsterte ich, »all diese Feuchtigkeit ist das Blut des Kjerks.«
»Glaub ich nicht«, wisperte Joern und da glaubte ich es auch nicht mehr.
Vorsichtig stiegen wir Stufe um Stufe hinab und schließlich traten wir um die Ecke und Joern verjagte die Dunkelheit vor uns mit der Taschenlampe. Die Treppe führte noch ein paar Stufen nach unten und mündete in einen Gang, dessen Wände aus Felsen bestanden. Nach ein paar Schritten weitete er sich zu einer Höhle, doch auch die Höhle war leer. Sie hatte einen lehmigen Boden und quer hindurch führten Spuren, die sich im Lehm abgedrückt hatten wie Hinweispfeile. Die Spuren von vier riesigen Pranken.
»Es ist kein richtiger Bunker«, flüsterte ich. »Sie haben die Höhle als Bunker benutzt. Hier hat davor schon etwas gewohnt. Etwas … Großes.«
»Vielleicht wohnte die ganze Zeit über etwas Großes hier. Es hat sich vorher nur nie ans Licht getraut«, flüsterte Joern.
Keiner von uns hatte Lust, das Wort »Kjerk« hier unten auszusprechen. Wir blieben mitten in der Höhle stehen und lauschten. Und da hörten wir ein Keuchen in der Dunkelheit. Joern ließ den Lichtkegel über die Wände wandern und fand gegenüber von uns zwei Öffnungen zu weiteren Gängen. Die Spuren des Kjerks verschwanden im linken Gang.
»Hast du das Messer?«, fragte ich.
Joern nickte.
»Wenn er leidet«, sagte ich, »müssen wir ihn schnell töten. Flint hat mir erzählt, dass man es bei Pferden so macht und auch bei Hunden. Wenn man ihnen nicht helfen kann, muss man sie erschießen. Und wenn man kein Gewehr hat, muss man wohl ein Messer benutzen. Das ist sicherer als noch ein Pfeil.«
Joern nickte wieder. Aber ich sah selbst im spärlichen Taschenlampenlicht, dass ihm nicht wohl war bei dem Gedanken.
»Vielleicht speit er Feuer, wenn man ihm zu nahe kommt«, flüsterte er. »Ich würde Feuer speien, wenn man mich töten wollte.«
»Na, ein Glück«, sagte ich, »dass du erstens kein Feuer speien kannst und dich zweitens niemand töten will.«
»Ach nein?«, fragte Joern und nickte in die Richtung, aus der das Keuchen kam. »Und das da vorne?«
Wir schlichen in den linken Gang und der Strahl der Lampe fiel nach wenigen Metern auf etwas wie einen Flussaus Geröll, der sich in die Dunkelheit hinabwand. Möglich, dass dies früher ein Bachlauf gewesen war. Joern leuchtete die Decke an: Sie wurde hier höher. Weit über uns stießen die Felswände zusammen wie die Decken der alten, mächtigen Kirchen, die ich aus Büchern kannte. Etwas flatterte über uns auf. Fledermäuse.
Joern machte einen Schritt nach vorn, ins Bachbett hinein. Regte sich dort unten nicht ein Schemen? Ja. Und jetzt hörten wir ihn fauchen. Er klang jedoch nicht so, als müsste man ihn von seinen Qualen erlösen wie ein krankes Pferd. Er klang wütend. Sehr. Und all mein Mitleid war schlagartig verschwunden.
Kein Messer ist scharf genug. Kein Pfeil fliegt weit genug. Kein Herz ist mutig genug. Kein Mensch kann den Kjerk töten.
Ich schluckte. Hatte ich das wirklich gehört? War es möglich, dass der Kjerk einen Dinge hören ließ?
»Los!«, flüsterte Joern und drückte mir die Taschenlampe in die Hand. Er selbst zog Flints Messer mit dem dunkelblauen Griff aus der Scheide. Er wollte es wirklich versuchen.
»Okay«, wisperte ich und packte die Lampe fester, um voranzubalancieren, von Felsbrocken zu Felsbrocken.
Es war ein rutschiges und wackeliges Unternehmen; man konnte nicht wissen, welche Steine fest saßen und welche sich plötzlich bewegen würden, sobald man darauftrat. Ich hörte den Kjerk atmen, während ich seiner Wut entgegenbalancierte wie ein Seiltänzer.
Und dann trat ich neben das Seil. Oder besser: Ich trat auf einen Stein, der sich bewegte. Er kippte einfach unter mir weg und ich spürte den schwarzen Blick des Kjerks, als ich fiel. Ich glaube, ich schrie. Ich streckte die Hände aus, um mich abzustützen, aber das war keine gute Idee. Im gleichen Augenblick, in dem ich mitten im Geröll landete, hörte ich das Krachen, mit dem das Glas der Taschenlampe auf einen Stein aufschlug.
Ich blieb einen Moment liegen, biss die Zähne zusammen und versuchte, den Schmerz in meinen aufgeschürften Händen zu ignorieren.
»Lasse?«, flüsterte Joern irgendwo über mir in der Dunkelheit. »Lebst du
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