Jenseits der Finsterbach-Brücke
Almut und ich sangen den Refrain mit und wir lachten eine Menge, wie schon oft an solchen Abenden. Flop lag vor dem Kamin und die graue Katze schnurrte vom Regal her, wo sie sich zwischen den Büchern breitgemacht hatte. Draußen heulte der Wind ums Haus und drinnen war es gemütlichwie immer. Aber ich dachte die ganze Zeit an die Tür im Keller. Die Tür, durch die der Weiße Ritter kommen würde.
Wir hatten sie hinter dem Stapel Kisten gefunden, dort, wo auch der Bogen gewesen war. Dass ich die Tür nie zuvor bemerkt hatte! Lag hinter ihr nur der eine Gang oder war es ein ganzes System von Gängen? Einer geheimer als der andere?
Almut hatte beschlossen, heute Nacht bei uns zu schlafen. »Falls etwas Aufregendes passiert«, hatte sie gesagt.
»Von mir aus«, hatte ich geknurrt.
»Was passiert denn Aufregendes?«, wollte Flint wissen, als er uns schließlich ins Bett schickte.
»Oh, nichts«, sagten wir alle drei im Chor, wohl etwas zu schnell, um glaubhaft zu klingen.
Flint machte ein strenges Gesicht. »Falls ihr vorhabt, eine Nachtwanderung im Wald zu veranstalten«, sagte er, »muss ich euch sagen, dass die Haustür nachts jetzt abgeschlossen ist. Und wenn ihr aus dem Fenster klettert, werde ich euch eigenhändig in den Pferdestall sperren. Niemand, hört ihr, niemand geht mir nachts in den Norderwald.«
Wir nickten alle drei.
»Ein Glück«, flüsterte ich, als Flint gegangen war, »dass du jetzt immer hier wohnst, was, Joern? Ein Glück, dass du nie mehr nachts zurück durch den Wald musst, um über die Finsterbachbrücke zu gehen.«
»Ja«, sagte Joern zögernd. »Ein Glück.«
Da klopfte Flint noch einmal und wir erschraken. Doch er schob nur Tom zu uns herein, Almuts kleinen Bruder.
»Alle schlaft ihr dauernd hier!«, rief Tom weinerlich. »Alle habt ihr es immer lustig, nur ich darf nicht mitmachen! Ich schlafe heute auch hier! Mama und Papa haben es erlaubt!«
Wir hatten natürlich keine Lust auf einen fünfjährigen Bruder, aber Flint sagte, Tom würde sonst die ganze Nacht quengeln. So machten wir neben Joerns Matratze ein Bett für Tom, aus lauter Kissen und Decken. Flop kuschelte sich sofort mit ihm in dieses Nest. Wir wollten noch lange reden, am besten die ganze Nacht, über morgen und über den Weißen Ritter und über alles. Aber dann schliefen wir alle viel zu schnell. Es war ein langer Tag gewesen, voller Schüsse, Stromschnellen, Ringe und Briefe.
Als ich aufwachte, war es sehr dunkel. Ich setzte mich auf und lauschte in die Nacht. Neben mir atmeten Almut, Joern und Tom, und Flop schnarchte wieder leise. Doch da war noch ein Geräusch. Es kam von draußen.
Ich stand auf und trat ans Fenster und da sah ich etwas über den Hof schleichen. Es war so groß wie ein Bär und bewegte sich seltsam schwankend voran. Ab und zu lief ein Zittern durch die beiden großen Flügel auf seinem Rücken. Ob es damit eben erst gelandet war?
Ich kniete mich neben Joern und schüttelte ihn. »Joern!«, flüsterte ich. »Er ist hier! Hier, auf dem Hof!«
»Wer ist wo?«, fragte der kleine Tom hellwach.
Es dauerte, bis auch Joern und Almut wach genug waren, doch schließlich standen wir alle am Fenster und sahen hinunter in den Hof.
»Der Kjerk!«, flüsterte Almut und kaute aufgeregt auf einer Haarsträhne herum. »Ist er das?«
Wir nickten. Als hätte der Kjerk uns gehört, hob er den Kopf und sah uns an. Dann öffnete er das Raubtiermaul und schickte eine grellgelbe Flamme in den Nachthimmel. Tom versteckte sein Gesicht in meinem Schlafanzug-T-Shirt und begann zu heulen. Almut wich unwillkürlich vom Fenster zurück.
»Sei still, Tom«, zischte sie. »Wenn er dich hört, kommt er herauf.«
Das half. Tom schwieg.
»Was will er?«, flüsterte Almut. »Noch ein Lamm reißen?«
Der Kjerk spuckte eine zweite Flamme. Er war jetzt mit seinem schaukelnden Gang beinahe beim Pferdestall angekommen. Der Pferdestall war strohgedeckt.
»Nein«, sagte Joern plötzlich. »Er will kein Lamm reißen. Er wird den Stall anzünden.«
»Aber wozu?«, fragte ich ungläubig.
»Er tötet, um zu töten«, sagte Joern.
»Im Stall sind die Pferde«, sagte Almut.
»Macht, dass er weggeht, der Kjert!«, jammerte Tom. »Ich will ihn nicht mehr sehen! Er ist hässlich und böse! Er gehört nicht hierher!« Er fing schon wieder an zu heulen.
»Morgen wird es ihn nicht mehr geben«, sagte ich eindringlich und kniete mich vor Tom. »Hör zu, Tom. Morgen kommt ein Ritter, ein echter Ritter, der verjagt ihn. Weißt du, so
Weitere Kostenlose Bücher