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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Norderwald.«
    Der Weiße Ritter schüttelte ganz sachte den Kopf.
    Ich seufzte und drehte den Brief um. Auf der Rückseite standen nur wenige Sätze.
    »Es gibt eine Tür«, las ich laut, »die dem Weißen Ritter geöffnet werden muss. Die Tür liegt im Keller des Gutshauses und man kann sie durch einen Gang vom Walde aus erreichen. Morgen wird der Weiße Ritter hinter dieser Tür stehen und warten, dass jemand von innen aufschließt. Lässt man ihn nicht ein, wird er fortgehen. Lässt man ihn ein, wird er den Herrscher des Waldes besuchen. Er muss es alleine tun, niemand darf ihn begleiten. Doch er weiß nicht, wo und um welche Stunde des Tages er ihn antreffen kann.«
    Damit endete der Brief. Der Weiße Ritter verneigte sich wieder leicht. Konnte er nicht sprechen? Ich versuchte mir vorzustellen, was hinter dem Visier verborgen war. Vielleicht hatte der Weiße Ritter keinen Mund. Vielleicht war er überhaupt kein Mensch. Vielleicht war er beim Kampf mit einem Kjerk verstümmelt worden und nun, da sich alle vor ihm grausten, zog er allein durch die Wälder und erlegte die Wesen, denen er sein Schicksal verdankte. Wie einsam musste er sein! Wie unglücklich!
    Ich wäre immer gern ein Ritter gewesen, aber so ein Ritter wollte ich nicht sein.
    »Punkt zwei Uhr«, sagte ich. »Das ist nach dem Mittagessen. Da können wir unauffällig in den Keller schleichen und die Tür öffnen. Wo ist sie genau?«
    Der Weiße Ritter schwieg.
    »Woher soll er das denn wissen?«, flüsterte Almut. »Er kennt sie sicher nur von der anderen Seite!«
    »Und woher weiß er dann, dass sie sich im Keller des Gutshauses befindet?«, fragte Joern.
    »Schlüsselloch?«, vermutete Almut.
    »Alte Pläne!«, sagte ich. »Sicher gibt es irgendwelche vergilbten Karten, auf denen so was verzeichnet ist.«
    Der Weiße Ritter neigte zum dritten Mal den Kopf. War das ein Nicken gewesen?
    »Vom Keller müssen Sie die Treppen hinauf und dann durchs Wohnzimmer gehen«, erklärte ich. »Danach durchdie kleine Tür neben dem Klavier, die führt zum Turm, in dem mein Vater tagsüber arbeitet. Sein Arbeitszimmer ist ganz oben. Dort können Sie ihn alleine antreffen. Und es … es wird ihm wirklich nicht wehtun?«
    Der Weiße Ritter schüttelte langsam den Kopf. Dann zog er eine Feder aus seinem Gürtel, die ich bisher nicht bemerkt hatte. Die Feder war nachtblau. Eine Feder des Kjerks. Ihr Ende war schräg angeschnitten und nun kniete der Weiße Ritter sich neben das Feuer und schrieb mit ihr eine Antwort in die Erde.
    Nein, schrieb er. Keine Sorge. Ihr seid sehr tapfer. Der Herr des Waldes wird stolz sein auf euch.
    Damit richtete er sich auf, steckte die Feder wieder in den Gürtel, verneigte sich ein letztes Mal und trat aus dem Kreis des Feuers ins Dunkel des Waldes. Trotz seiner Rüstung verschwand er so lautlos, wie er gekommen war.
    Lange Zeit sagte niemand am Feuer etwas.
    »Morgen«, flüsterte Almut schließlich, »morgen um zwei. Wird er da sein?«
    »Und von wo wird er kommen?«, flüsterte Joern.
    »Lasst uns zurück zum Norderhof gehen!«, sagte ich. »Wir müssen die Tür finden. Die Tür im Keller. Es bleibt nicht mehr viel Zeit bis morgen.«
    Auf dem Rückweg kamen wir an der Lichtung vorbei, die vor so Langem mein Lieblingsplatz gewesen war. Sie würde es wieder werden, schwor ich mir, sobald der Kjerk nicht mehr sein Unwesen auf den Lichtungen dieses Waldes trieb.
    Ich hielt Westwind an.
    »Dort ist das Grab meiner Mutter«, sagte ich zu Joern. »Warte hier.«
    Und ich saß ab und ging durchs hohe Gras zu der Linde hinüber. Sie wisperte im Wind mit ihren hellen Blättern wie ein Mensch und vielleicht war es meine Mutter, die da wisperte.
    »Morgen«, flüsterte ich ihr zu. »Morgen wird alles gut. Wir werden den Weißen Ritter durch die Tür im Keller hereinlassen und er wird den Kjerk töten. Du wirst sehen, wie gut alles wird.«
    Da neigte die Linde ihre Äste, als wollte sie mir etwas sagen, doch ich verstand sie nicht. Ich streckte die Hand aus, pflückte eines ihrer Blätter und steckte es in die Tasche meiner Jacke. Ich würde es dem Weißen Ritter mitgeben, wenn er auszog, um den Kjerk zu töten.
    Wir ritten den Rest des Weges schweigend.
    An diesem Abend saß Flint lange am Klavier und sang Lieder für uns, alte Küchenlieder, die die Mägde früher beim Abwasch gesungen hatten. Ihr wisst schon, solche Lieder, in denen sie sich dauernd aus Kummer ertränken, und alles ist so tieftragisch, dass kein Mensch es ernst nehmen kann.

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