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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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her? Wie hast du mich gefunden?«
    »Lasse?«, rief jemand. »Lasse!«
    Gleich darauf stand Joern vor mir. Er musterte mich vonoben bis unten und schüttelte den Kopf. »Entweder bist du’s wirklich«, sagte er, »oder du hast einen perfekten Doppelgänger.«
    »Ich weiß nicht, ob ich es bin«, antwortete ich kläglich. »Ich weiß überhaupt nicht mehr, wer ich bin. Mein Nachname ist jedenfalls nicht Windström. Vielleicht heiße ich nicht mal Lasse, sondern ganz anders.«
    Und dann erzählte ich ihm von der Linde und der toten Haut des Kjerks und er erzählte mir von seiner Mutter, die keine Arbeit mehr hatte, und von dem Nachtspat, den er verkaufen wollte, um Onnar bis zur Verhandlung aus dem Gefängnis zu holen.
    Da nahm ich den goldenen Ring vom Grund des Flusses aus meiner Tasche und drückte behutsam den Stein heraus. »Wir verkaufen sie zusammen«, sagte ich. »Dann reicht es auf jeden Fall.«
    »Danke, Lasse«, sagte Joern.
    Mehr brauchte nicht gesagt zu werden.
    Kurze Zeit später schloss Joern die Tür eines Wohnblocks auf und ich folgte ihm und Flop vier Treppen hinauf. Vor der Wohnungstür mit dem Namensschild »Nilow« blieb Joern stehen und lauschte. Drinnen schrien sich Leute an.
    »Oh nein«, sagte Joern. »Sie streiten schon wieder. Zum Glück hören sie gewöhnlich damit auf, wenn das Essen fertig ist. Komm mit, Lasse. Wir gehen so lange aufs Dach. Ich zeige dir die Schwarze Stadt von oben.«
    Wir stiegen noch vier Stockwerke höher und klettertendann eine Leiter hinauf, an deren Ende Joern eine Luke öffnete. Flop folgte ihm ins Freie. Ich schluckte. Nach der Sache mit dem Finsterbach war mir nicht danach, auf ein Dach zu klettern. Aber wenn selbst ein Hund es konnte …
    Joern half mir hoch und das Dach war nicht einmal flach, sondern schräg. Eine Metallleiter reichte von der Luke bis zum Dachfirst.
    Dorthin führte mich Joern und schließlich saßen wir rittlings neben einem großen Schornstein auf dem First wie auf einem Pferd. Flop machte es sich zwischen uns bequem. Er musste ein unglaublich schwindelfreier Hund sein.
    »Guck sie dir bloß gut an, die Schwarze Stadt«, sagte Joern. »Damit du weißt, ob du hier wirklich bleiben willst.«
    »Ich … bin nicht ganz … schwindelfrei«, stotterte ich etwas kläglich.
    »Doch«, sagte Joern fest. »Das bist du. Denn du bist mit mir hier und ich bin schwindelfrei. Das färbt ab.«
    Er legte seine Hände auf meine Schultern und ich lugte vorsichtig nach unten. Ein Teppich aus kalten Lichtern breitete sich unter uns aus. Die Sonne war jetzt ganz hinter dem Horizont versunken und hatte nur einen schmierigen Streifen Licht hinterlassen, der die Dächer blutrot färbte. Ich schauderte und mein Herz wurde kalt wie die weißen Lichter dort unten. Aber schwindelig war mir nicht mehr. Joern hatte recht: Jetzt, wo ich mit ihm gemeinsam in die Tiefe sah, war es nicht mehr schlimm.
    »Ich muss dir noch etwas erzählen«, begann ich. »Johannhat das Messer gefunden, das mit dem blauen Griff … Joern, ich weiß nicht mehr, wem und was ich glauben soll. Johann zum Beispiel oder selbst dir …«
    Es war schrecklich, über meinen Verdacht zu sprechen – dass genau dieses Messer die Lämmer getötet und Tök verwundet hatte, aber ich musste darüber reden, sonst hätte es mich von innen zerfressen. Wenn Joern wirklich in die Sache verstrickt war, dachte ich, konnte er mich jetzt ganz einfach vom Dach in die Tiefe stoßen. Und das sollte er dann auch tun. Denn wenn mein Freund nicht mein Freund war, wollte ich nicht mehr leben.
    Aber Joern schüttelte nur den Kopf, als ich mit meiner Erklärung am Ende war.
    »Dummer alter Lasse«, sagte er freundlich. »Du hast eine wichtige Sache vergessen! Wäre dies ein Detektivroman, hätte jeder Leser es längst gemerkt: Die Lämmer sind getötet worden, bevor du das Messer von der Wand im Turm genommen hast.«
    Er hatte recht.
    »Ich Idiot«, sagte ich erleichtert.
    »Es kann natürlich trotzdem jeder gewesen sein«, fügte Joern hinzu. »Messer gibt es genug auf der Welt. Nimm dich in Acht! Vielleicht bin ich ein verkleideter Lämmermörder.«
    Da musste ich plötzlich lachen, so unsinnig klang das. Nein, Joern war kein Mörder. Joern war mein Freund, sonst nichts.
    »Ich muss dir auch noch etwas erzählen, das ich nichtgern erzähle«, meinte er »Als ich heute von dem Besuch im Gefängnis kam, fand ich auf meinem Ärmel das hier.«
    Er holte eine winzige Feder hervor. Es war zu dunkel, um ihre Farbe zu erkennen.

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