Jenseits der Finsterbach-Brücke
Doch ich wusste, dass sie blau war. Dunkelblau. Nachtblau. Kjerkblau.
»Du glaubst doch nicht, dass Onnar …?«, flüsterte ich, kaum hörbar. »Dein Bruder?«
»Ich will es nicht glauben«, antwortete Joern. »Aber wir müssen die Wahrheit herausfinden. Und dazu müssen wir Onnar freikaufen.«
Als wir wieder vor der Wohnungstür im vierten Stock standen, gab es dahinter ein ziemliches Stimmengewirr, aber niemand schrie mehr.
»Siehst du«, sagte Joern. »Wenn das Essen fertig ist, hören sie auf.«
Und dann betraten wir die winzigste Wohnung, die ich je gesehen habe. Sie war so winzig, dass das Stimmengewirr kaum Platz darin zu haben schien. Und die Besitzer der Stimmen schon gar nicht.
Joern führte mich in eine Küche, die wir auf dem Norderhof gerade so als Abstellraum hätten durchgehen lassen, und alle am Tisch sahen auf. Es waren fünf Männer – zwei davon eher Jungen – und eine Frau. Joerns Mutter. Sie musste einmal sehr schön gewesen sein, aber über die Jahre hatte die Schönheit sich verbraucht und war dem Ausdruck großer Erschöpfung gewichen. Ich hätte die Zeit gern zurückdreht, nur für einen Augenblick, um zu sehen, wiehübsch sie damals ausgesehen hatte. Aber die Zeit ist eine Einbahnstraße.
»Das ist Lasse«, sagte Joern. »Mein Freund.«
»Setz dich zu uns«, sagte seine Mutter und lächelte mir zu.
Joerns Brüder riefen: »Einen Stuhl!«
Es entstand eine Menge Gewusel, bis sie schließlich noch einen Stuhl gefunden hatten. Nun war die Küche so voll, dass man sich kaum mehr bewegen konnte.
»Das ist Damian«, sagte Joern und zeigte auf einen der Männer, »und das Dario und Dirk und Dennis und das …«
»Ich bin Holm«, sagte der letzte Mann am Tisch. »Ich gehöre nicht zur Familie, also brauchst du dir den Namen nicht zu merken.«
Aber Holm war der einzige Name, den ich mir merken konnte. Die anderen klangen alle gleich und die vier Brüder sahen auch alle gleich aus oder beinahe gleich.
»Holm ist übergeschnappt«, erklärte Joerns Mutter und zeigte auf den Tisch. »Er hat uns diesen Riesenschinken mitgebracht.« Sie sah Holm an und lächelte wieder. »Es ist ja nicht so, dass wir auf der Stelle verhungern, nur weil ich meinen Job los bin.«
Holm grinste verlegen. Ich mochte ihn sofort.
Einer der vier D säbelte eine Scheibe Schinken und eine Scheibe Brot für mich ab und zwinkerte mir zu.
»Lasse, äh, bleibt eine Weile«, sagte Joern. »Wir kennen uns aus der Schule. Er ist der Sohn der Cousine von meiner Lehrerin. Meine Lehrerin hat leider gerade keinen Platzzu Hause, da hat sie mich gefragt, ob Lasse nicht bei uns schlafen könnte. Weil Lasse und ich uns ja so gut verstehen. Seine Eltern mussten für eine Weile verreisen …«
»Nach Afrika«, fügte ich hinzu.
Alle schwiegen und starrten uns verwirrt an.
»Auf einen Esser mehr oder weniger kommt es wohl auch nicht mehr an«, sagte Joerns Mutter endlich und lächelte mich an.
Alle nickten.
»Braucht ihr eigentlich noch etwas?«, fragte Holm. »Ich meine, ich will mich nicht aufdrängen, aber als ich Onnar gestern Morgen besucht habe, war er sehr besorgt um euch alle.«
Die vier D schnaubten.
»Als könnten wir nicht auf uns selber aufpassen«, sagte einer von ihnen.
Und ein anderer: »Wir kommen schon klar. Wir arbeiten schließlich auch.«
»Manchmal«, fügte ein Dritter hinzu.
»Wenn es Jobs gibt«, sagte der Vierte. »Onnar will immer, dass wir Jüngeren zur Schule gehen, Dennis und ich und Joern, aber das ist Unsinn.«
»Ihr solltet gehen«, sagte Holm. »Onnar hat recht.«
Da schlug einer der vier D so kräftig mit der Faust auf den Tisch, dass alle Brotbretter in die Luft hüpften, und ich hörte, wie Joern tief durchatmete. Dann nahm er das Schinkenmesser vom Tisch und legte es still in eine Schublade, während um uns schon wieder alle brüllten.
»Onnar ist ein Idiot!«, sagte einer der vier D schließlich etwas leiser. »Er meint es gut, aber er ist und bleibt ein Idiot. Er will alles ändern, ohne jemandem wehzutun. Änderungen tun immer weh. Es geht nicht anders.«
Holm wiegte nachdenklich den Kopf. »Onnar ist kein Idiot«, sagte er. »Nur ein Starrkopf. Und sein Stolz wird ihn noch mal diesen Kopf kosten. Pöhlke hat angeboten, die Kaution zu bezahlen und ihm einen Anwalt zu besorgen. Aber Onnar hat sich geweigert, überhaupt nur mit Pöhlke zu reden. Also hat Pöhlke mich gebeten, mit ihm zu sprechen.«
»Dich?«, fragte Joern ungläubig. »Er ist Onnars Feind und du redest mit
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