Jenseits der Finsterbach-Brücke
ihm?«
»Er ist nicht Onnars Feind«, sagte Holm. »Der Große, dem das Bergwerk gehört, ist Onnars Feind. Okay, Onnar hasst Pöhlke, weil er nicht hart genug mit dem Großen verhandelt hat. Okay, Pöhlke ist feige. Aber er ist auf unserer Seite. Er will, dass alles besser wird, genau wie Onnar. Er hat gesagt, er würde das Geld für die Kaution nicht mal zurückhaben wollen.«
Joern griff in seine Hosentasche und legte die beiden Stücke Nachtspat auf den Tisch.
»Pöhlke braucht uns gar kein Geld zu geben«, sagte er. »Wir werden die Kaution selbst bezahlen. Morgen ist Onnar frei.«
Alle starrten die schillernden Steine an wie UFOs, die eben auf dem Küchentisch gelandet waren.
»Wo habt ihr die her?«, fragte Joerns Mutter misstrauisch.
»Gefunden«, antwortete Joern, und das war keine Lüge. »Hinter der Fabrik.« Na gut, das war eine Lüge.
»Joern, Joern«, murmelte seine Mutter und schüttelte den Kopf. »Selbst wenn wir dir das glauben, wird niemand anders es tun. Seht euch bloß vor.«
»Ich wüsste, an wen wir die Steine verkaufen könnten«, sagte einer der vier D. »Heute Morgen hat mich einer gefragt, ob wir noch mehr Nachtspat im Keller versteckt hätten. Er hat mir einen guten Preis dafür geboten.«
Joerns Mutter schüttelte nur stumm den Kopf und begann die Brotbretter abzuräumen.
An diesem Abend sagte keiner mehr viel. In der Luft lag zwischen dem Geruch nach trocknender Wäsche und nach Holms Schinken eine zitternde Spannung. Die beiden Edelsteine auf dem Tisch schienen nervös zu flackern.
Ich durfte auf einer Matratze neben Joerns Bett schlafen, in dem kleinsten Zimmer, das es auf der Welt geben konnte. Wir mussten die Tür offen lassen, damit die Matratze überhaupt hineinpasste.
»Morgen«, flüsterte Joern, als wir unter unseren Decken lagen, »morgen finden wir tausend Dinge heraus.«
Mitten in der Nacht wachte ich auf, weil ich Durst hatte. Zuerst wusste ich nicht, wo ich war, doch dann erinnerte ich mich. Ich ging in die Küche, um etwas Wasser zu trinken, und dabei musste ich mich durch einen Wald aus Wäscheständern kämpfen. Auf dem Sofa im Wohnzimmer schlief Joerns Mutter und aus dem Schlafzimmer drang das Schnarchen der vier D. Die Wohnung roch nach Schinken und Waschmittel und viel zu vielen Menschen. Ich wünschte mir, ich könnte ein Fenster öffnen und die Luft des Norderwaldes tief einatmen, doch der Norderwald war weit, weit weg. Noch weiter, als ich in dieser Nacht dachte.
In der Küche lag Flop auf dem Boden eingerollt und schnarchte sein winziges Hundeschnarchen. Ich bückte mich, um ihn zu streicheln, und da fand ich etwas unter dem Tisch. Es war ein kleiner heller Gegenstand, den Flop zerkaut hatte. Ich hob ihn auf und ging zum Fenster, wo die Helligkeit der schlaflosen Stadt hereindrang.
In ihrem künstlichen Licht betrachtete ich, was auf meiner Hand lag.
Es war ein Stück weißes Seidenband.
»Der Weiße Ritter«, flüsterte ich in die Nacht und ein Schauer lief mir über den Rücken bis in die Zehenspitzen hinunter. »Er war hier. Hier, in dieser Wohnung.«
Fünf vor zwölf
D er nächste Tag war ein Feiertag, was uns vor der Diskussion bewahrte, wer zur Schule ging und wer nicht. Joern lieh mir seine Zahnbürste und ich putzte mir im engsten aller Bäder die Zähne. Es war so eng, dass man Angst bekam, das eigene Spiegelbild könnte nicht in den Spiegel passen.
»Sie haben uns ausschlafen lassen«, sagte Joern. »Es ist verdammt spät.«
»Spät?«, fragte ich. »Ich dachte, es wäre verdammt früh. Es dämmert doch erst.«
Da lachte Joern. »Wenn du darauf wartest, dass das goldene Licht vom Norderwald heraufzieht, damit der Tag anfangen kann«, sagte er, »dann kannst du lange warten. In der Schwarzen Stadt wird es nicht sonniger.«
»Zeit wird es trotzdem, dass der Tag anfängt«, sagte ich. »Denn heute finde ich heraus, wer ich bin. Ich werde zum Krankenhaus gehen und fragen. Sicher haben sie Bücher, in denen drinsteht, welche Kinder in welchem Jahr geboren oder adoptiert wurden. Ich möchte wirklich meine Mutter finden. Vielleicht sehnt sie sich nach mir.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Joern. »Sonst hätte siedich wohl nicht weggegeben. Aber ich weiß einen, der sich nach dir sehnt. Jetzt schon, obwohl du erst eine Nacht weg bist.«
»Flint?« Ich schnaubte. »Flint ist ein Lügner.« Es tat weh, das zu sagen, auch wenn es stimmte. »Er hat ein Geheimnis«, sagte ich. »Und ich bin mir sicher, der Schlüssel dazu liegt hier in der
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