Jenseits der Finsterbach-Brücke
vielleicht hat er versucht, etwas herauszufinden?« Er schob einen Schein unter die Papiere auf ihrem Tisch, unauffällig, dezent. Es war ein großer Schein.
»Ist er hier gewesen?«
Die Oberschwester strich über ihr perfekt glattes Haar. Sie rührte den Schein nicht an.
»Nein«, sagte sie. »Hier war niemand.«
Willkommen zu Hause
A ls wir zurück in die winzige Wohnung kamen, stapelten sich im Flur Kisten voll leerer Bierflaschen. Die Wut vom Nachmittag war verraucht. Die vier D saßen am Küchentisch und teilten sich das allerletzte Bier.
»Ja, betrinkt euch nur ruhig«, sagte Onnar. »Trinkt euch glücklich und vergesst alles. Trinken ist wie Nachtspat.«
Damian hob die Faust.
»Oh nein!«, sagte ich. »Fangt nicht schon wieder an.« Es rutschte mir einfach so heraus.
Da ließ Damian die Faust sinken und Onnar schwieg. Alle begannen still Kartoffeln in sich hineinzuschaufeln. Joerns Mutter lächelte mir zu.
»Kannst du hexen, Lasse?«, flüsterte sie.
»Ich glaube«, flüsterte ich zurück, »sie waren nur überrascht, dass einer ihnen etwas sagt, der so viel jünger ist. Da, wo ich herkomme, kann man immer alles sagen, auch wenn man jünger ist.«
»Wo kommst du denn her?«, fragte sie und da erzählte ich von den grünen Weiden, auf denen die Lämmer umhersprangen, und vom Wispern der Bäume im Wald und davon, wie man im Winter Schlittschuh laufen konnte aufden zugefrorenen Seen und auf dem Fluss. Und alle lauschten und schwiegen. Es gab keinen Streit, den ganzen Abend nicht. Ich glaube, sie dachten, ich erzählte ihnen Märchen.
Nur Joerns Mutter sagte schließlich: »Mir ist, als hätte mir jemand schon einmal von einem solchen Ort erzählt, vor langer, langer Zeit. Aber es war ein trauriger Ort, weil ein Zaun und ein reißender Fluss ihn von der Außenwelt trennten.«
»Oh, aber da, wo Lasse herkommt, gibt es eine Brücke«, erklärte Joern schnell.
»Ein Glück«, sagte seine Mutter.
Und in dieser Nacht, auf der Matratze neben Joerns Bett, träumte ich davon, die Brücke wäre groß und breit und aus stabilen Balken, mit einem weißen Geländer. Joern, ich und Joerns Mutter gingen gemeinsam hinüber und Onnar stand auf der anderen Seite und lächelte sein goldenes Lächeln. Neben ihm stand Flint. Sie warteten auf uns. Es war ein wunderschöner Traum.
Wir wachten alle davon auf, dass es an der Tür klingelte.
Kurz darauf klingelte es noch einmal. Mindestens eine Minute lang.
»Joern?«, fragte ich, noch halb im Traum. »Wie spät ist es?«
»Spät«, murmelte Joern. »Früh. Nacht. Keine Zeit für Besuch.«
Es klingelte zum dritten Mal. Im Flur ging das Licht an. Verschlafene Stimmen drangen zu uns in die Kammer.Als es zum vierten Mal klingelte, hörte es nicht wieder auf. Ich verhedderte mich beim Anziehen in meinem Pullover und versuchte vergeblich, wach zu werden. Etwas war passiert.
Joern und ich kamen gleichzeitig in die Küche. Dort war die Sprechanlage und nun drückte Damian auf den Knopf.
»Onnar«, sagte eine knisternde Stimme. »Onnar.«
Aber es war nicht Onnar. Es war jemand, der Onnar sprechen wollte.
»Was wollen Sie von Onnar?«, fragte Damian. »Wer sind Sie?«
Die Sprechanlage knisterte wieder. »Er soll runterkommen«, sagte die Stimme. »Sofort. Es ist wichtig.«
»Wo ist Onnar?«, flüsterte ich.
Joern zuckte mit den Schultern. Onnar war der Einzige, der nicht in der Küche aufgetaucht war. »Ich hoffe, weit weg«, flüsterte Joern.
»Es wäre besser für alle, wenn er runterkäme«, sagte die Stimme. Jetzt war sie deutlicher.
»Pöhlke!«, sagte Damian. »Verschwinden Sie. Sie haben hier nichts zu suchen. Wir sind sechs Brüder, wissen Sie, und wir haben zwölf Fäuste.«
Da schob jemand Damian beiseite: Onnar. Er war nicht weit weg.
»Warten Sie!«, rief er in die Sprechanlage. »Ich bin auf dem Weg.«
Dann legte er den Hörer auf und stand einen Moment ganz still da, als müsste er sich konzentrieren.
»Was … was will er?«, flüsterte seine Mutter.
Onnar nahm sie in die Arme und sie sah auf einmal sehr klein aus.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich bin gleich wieder da.«
Damit schnappte er sich seine Jacke und schlüpfte durch die Haustür, beinahe lautlos.
»Komm!«, sagte Joern.
Kurz darauf rannte ich hinter ihm die vier Stockwerke hinab, Onnars Schritten nach. Keiner der vier D folgte uns.
Draußen kickte ein kalter Wind leere Tüten vor sich her. Die Straße lag wie tot im eisigen Laternenlicht. Vor uns stand eine gedrungene
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