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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sagte er. »Alle Frauen von den Maschinen und alle Männer vom Bergwerk.«
    »Ich arbeite nicht mehr in der Fabrik«, sagte Joerns Mutter. Ihr Haar hing aufgelöst um ihr Gesicht wie Seetang und es war klar, dass sie nicht geschlafen hatte.
    »Trotzdem«, sagte Holm. »Kommt mit. Alle. Irgendetwas ist passiert.«
    Wir trotteten den Weg entlang bis zur Fabrik, als schliefen wir noch. Ich wollte gar nicht wissen, was geschehen war. Die Fabrik ging mich nichts an. Aber Joern ging sie etwas an und deshalb kam ich mit.
    Der Parkplatz vor der Fabrik war voller Menschen. Ganz vorne stand ein Podest mit einer kleinen Treppe. Dahinter, an der Außenwand der Fabrik, hing etwas Großes, Viereckiges, verhüllt von einem Stück Stoff. Und jetzt stieg jemand auf das Podest und sprach in ein Mikro.
    »Gut, dass ihr alle gekommen seid«, sagte er. Es war Pöhlke.
    Zuerst dachte ich, das alles hätte etwas mit Onnar zu tun und mit unserem Handel im stillgelegten Stollen, aber dann kam es ganz anders.
    »Die Leitung der Fabrik hat entschieden, dass ich zu euch sprechen soll«, fuhr Pöhlke fort, nachdem es ruhig geworden war auf dem Platz. »Weil ich schon immer für euch da war. Schon immer für euch gekämpft habe. Als Chef eurer Gewerkschaft.«
    Er erwartete wohl, dass die Leute klatschten, doch niemand klatschte. Einige Leute murrten sogar laut.
    »Heute Morgen ist hier ein Telegramm eingegangen«, sagte Pöhlke. »Und damit haben wir eine wichtige Information erhalten.« Er räusperte sich. »Der Große ist tot.«
    Zuerst lief ein verwundertes Raunen durch die Reihen der Frauen und Männer um uns, doch dann brachen sie in offenes Jubelgeschrei aus. Sie mussten ihn wirklich sehr gehasst haben.
    »Nein«, sagte Holm leise neben mir. »Das … das kann nicht sein.«
    »Den genauen Zeitpunkt seines Todes wissen wir nicht«, sagte Pöhlke. »Die Beerdigung findet am Mittwoch um fünf Uhr auf dem neuen Friedhof statt. Ich hoffe, ihr werdet zahlreich erscheinen. Die Fabrik und das Bergwerk gehen laut Testament des Großen an meinen Sohn, Pöhlke junior, da er zurzeit der tüchtigste Arbeiter ist.«
    Pöhlke junior kletterte neben seinem Vater auf das Podest und wieder lief ein Raunen durch die Reihen. Ich dachte, dass ich noch nie einen Menschen mit so einem nichtssagenden Gesicht gesehen hatte. Pöhlke junior öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Aber offenbar fiel ihm nichts ein. Er wirkte nicht besonders schlau. Ehrlich gesagt wirkte er besonders dumm. Sein Vater scheuchte ihn schnell wieder vom Podest herunter.
    »Unser neuer Chef«, fuhr Pöhlke senior fort, »wird nun vor einem Bild des Großen einen Kranz niederlegen. Damit erweisen wir ihm unsere letzte Ehre und läuten gleichzeitig eine neue Zeit ein. Eine Zeit voller Verbesserungen und Änderungen! Der neue Chef lebe hoch!«
    »Hoch!«, riefen die Arbeiter und schwenkten alles, was sie fanden. Hüte, Halstücher und Handtaschen. »Hoch, hoch, hoch!«
    Nur Joern und seine Familie stimmten nicht in den Chor mit ein und Holms Lippen formten stumm immer wieder das Wort »nein«.
    Pöhlke junior hob einen großen dunklen Blätterkranz miteinem hässlichen goldenen Spruchband über seinen Kopf. »Wir danken … dem ehe… ehemaligen … Besitzer der … des Bergwerks«, sagte er stockend ins Mikro. »Dem Großen, Herrn F. Hagen. Möge Herr … Herr Hagen in Frieden …«
    Der Rest ging in noch mehr Jubelgeschrei unter. Pöhlke senior zog an einer Schnur und das Stück Stoff glitt herab. Darunter kam ein Bild zum Vorschein. Ein überdimensionales Foto.
    Es war schwarz-weiß und unscharf. Aber ich erkannte das Gesicht sofort.
    »Hagen?«, flüsterte ich. Niemand hörte mich. »F. Hagen?«
    Vielleicht hatte derjenige auf dem Foto hier ja wirklich F Punkt Hagen geheißen.
    Im Norderwald hatte er einen anderen Namen gehabt.
    Flint Windström.
    Mein Vater.
    Das Foto verschwamm vor meinen Augen. Die Menschenmenge verschwamm. Ich sah nichts mehr. Dann spürte ich, dass mich jemand in den Arm nahm.
    »Lasse«, sagte Joerns Mutter. »Lasse?«
    »Mein Vater«, flüsterte ich zwischen den Tränen, die mich zu ersticken drohten, »mein Vater ist tot. Mein Vater ist nicht mein Vater. Und ich werde meine Mutter niemals finden.«
    Joerns Mutter machte einen Schritt zurück und musterte mich aufmerksam. Seltsam, doch auch in ihren Augen schienen Tränen zu stehen.
    »Bist du der Junge«, fragte Joerns Mutter langsam, »den der Große damals adoptiert hat?«
    Ich nickte und weinte und weinte

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