Jenseits der Finsterbach-Brücke
Gestalt in einem halb langen Mantel und polierten Schuhen. Pöhlke. Er ging vor uns her bis zur nächsten Straßenecke. Dort holte er etwas aus der Tasche und hielt es in die Höhe. Es war die Hülle einer DVD.
»Onnar«, sagte Pöhlke kopfschüttelnd. »Ich kann doch nicht mein Leben lang auf dich aufpassen! Was wäre passiert, wenn ich diesen Film nicht an mich genommen hätte, ehe jemand anders ihn zu Gesicht bekommen konnte?«
»Was für ein Film ist das?«, fragte Onnar.
»Er stammt aus einer der Überwachungskameras im Bergwerk«, sagte Pöhlke. »Und man kann darauf sehr deutlich sehen, wie deine Brüder im stillgelegten Stollen zwei schöne Steine aus dem Bergwerk verkaufen. Erstklassiger geschliffener Nachtspat. Die Summe, die der Käufer ihnenvorzählt, entspricht genau deiner Kaution. Ich habe mir den Film zufällig angesehen.«
»Zufällig«, sagte Onnar. »Und die Überwachungskamera hing zufällig zur richtigen Zeit im stillgelegten Stollen, wo es sonst keine Kameras gibt. Und zufällig stand eine Kiste Nachtspat in unserem Keller, wo ich sie nicht hingestellt habe.«
»Wenn dieser Film in die Hände der Polizei gerät«, sagte Pöhlke, »sieht es schlecht aus für dich, Onnar. Der Gerichtstermin ist nächsten Donnerstag. Ich gebe dir bis dahin Zeit.«
»Was wollen Sie? Geld?«
Pöhlke lachte. »Nein. Ich will, dass du dich aus meinen Verhandlungen mit dem Großen heraushältst. Ich will dich nie mehr im Bergwerk sehen. Und auch nie mehr in der Fabrik. Das ist alles. Ein faires Angebot, findest du nicht?«
Onnar drehte sich zu uns um. »Geht nach Hause«, sagte er leise. »Ich muss allein mit diesem Herrn hier sprechen.«
»Nein«, sagte Joern fest. »Vergiss es.«
Und dann machte er einen Satz und griff nach der DVD-Hülle. Eine Sekunde lang hielt er sie in den Händen. Da machte noch jemand einen Satz, einen Satz aus dem Dunkel eines Hauseingangs, und packte Joern. Pöhlke war nicht allein gekommen.
Ich stürzte vorwärts, um Joern zu helfen, doch ein weiterer Schatten hielt mich fest. Ich trat um mich und versuchtefreizukommen – vergeblich. Der Mann war viel stärker als ich. Am stärksten jedoch war meine Furcht. Was hatten sie mit uns vor?
»Onnar!«, schrie ich. Oder hatte Joern geschrien? Der Name schien die ganze Nacht auszufüllen. Onnar sprang nach vorne. Ich weiß nicht genau, was dann geschah. Wir stürzten alle zu Boden, ich spürte schmerzhaft den kalten, feuchten Asphalt unter mir und ich sah Onnar kämpfen wie eine Raubkatze. Er kämpfte für uns. Für sich alleine hätte er nie gekämpft, aber für uns tat er es, denn er hatte Angst um uns. Unsere Gegner waren zu zweit, es war ein unfairer Kampf. Irgendwann rollte ich zur Seite und fand mich im Rinnstein wieder. Neben mir lag Joern, keuchend und außer Atem. Sekunden später war das Blaulicht da und ein Polizeiauto hielt in der Nähe.
Als ich mich aufrichtete, hatten die beiden Männer Onnar losgelassen. Er rappelte sich auf, die beiden anderen jedoch blieben auf dem Boden liegen. Die Türen eines Polizeiautos wurden geöffnet und kurze, abgehackte Fragen wurden gestellt. Ich hörte Pöhlke antworten.
»Er hat sie angegriffen«, sagte er. »Wie ein Wahnsinniger, sehen Sie selbst … Sie wissen, wer das ist, heute erst haben seine Brüder die Kaution bezahlt …«
Ich wollte schreien: Das ist nicht wahr! Er hat sie nicht angegriffen! Nichts ist wahr! Und ich spürte, dass auch Joern gern geschrien hätte.
Doch ehe einer von uns den Mund öffnen konnte, hatten die Polizisten Onnar bereits in ihr Auto geschubst. Die beiden Männer und Pöhlke stiegen ebenfalls ein. Die Türen schlugen zu, das Motorengeräusch entfernte sich.
Die Straße war leer. Leer bis auf Joern und mich.
Wir stützten uns gegenseitig, als wir zurück nach Hause wankten. Alles an mir tat weh.
»Joern«, flüsterte ich und lehnte mich gegen die Haustür. »Er war es nicht.«
»Was?«, flüsterte Joern. »Wer?«
»Der Kjerk. Onnar kann es nicht sein. Er hatte nicht einmal eine Waffe.«
»Und wir sind schuld daran, dass sie ihn mitgenommen haben«, sagte Joern bitter. »Dieses Mal kann niemand ihn freikaufen.«
In jener Nacht, als ich zerschlagen und zerschunden auf meiner Matratze lag, dachte ich, dass es nun nicht mehr schlimmer kommen könnte. Aber ich hatte keine Ahnung.
Es kam schlimmer. Noch viel schlimmer.
Am nächsten Morgen stand Holm sehr früh vor der Tür. Er war blass wie ein Stück Papier. »Sie haben uns in die Fabrik gerufen«,
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