Jenseits der Finsterbach-Brücke
und nickte. Es war, als müsste ich mich komplett in Wasser verwandeln. Irgendwo war Joern. Ich spürte seine Hand auf meinem Arm und hörte ihn leise und hektisch Dinge erklären. Er erzählte seiner Mutter, wo ich wirklich hergekommen war. Die Wahrheit, ohne Cousin und Afrikareise.
»Deinen Vater kann niemand ersetzen«, flüsterte Joerns Mutter schließlich und hielt mich ganz fest. »Aber deine Mutter, die brauchst du nicht mehr zu suchen.«
»Wie?«, fragte ich. »Wieso?«
»Lasse«, flüsterte Joerns Mutter. »Ich … Wie soll ich dir das erklären. Als du geboren wurdest, warst du sehr schwach. Zu schwach. Sie sagten, du bräuchtest viel Pflege. Rund um die Uhr. Ich hatte schon sechs Kinder zu Hause und euer Vater hatte uns verlassen. Im Krankenhaus haben sie mir gesagt, sie hätten jemanden, der sich besser um dich kümmern könnte, Lasse. Jemanden, der ein Kind suchte. Zur Adoption. Das war Flint Hagen. Der Große. Ich habe zugestimmt.«
»Aber wir sind doch gleich alt!«, rief Joern. »Was war mit mir?«
»Ihr wart zweieiige Zwillinge«, sagte seine Mutter. Meine Mutter. Unsere Mutter. »Ein starker und ein schwacher. Ein gesunder und ein kranker. Im Krankenhaus haben sie mir von den gleichen Wäldern und Seen erzählt, die du uns beschrieben hast. Aber alle dachten, das Paradies, in demdu leben würdest, läge weit, weit weg. Zu weit, als dass ihr beide euch zufällig begegnen könntet.«
»Willkommen zu Hause!«, sagte Damian und klopfte mir freundlich auf die Schulter. »Hast dir ja zwölf Jahre Zeit gelassen, Bruderherz, aber besser spät als nie.«
Vergiss nie all das Schöne
N un würde ich wohl nie wieder auf den grünen Weiden beim Norderhof mit den Lämmern um die Wette laufen. Nie mehr würde ich dem Wispern der Bäume im Wald lauschen und nie mehr im Winter Schlittschuh laufen auf dem zugefrorenen Fluss.
Ich hatte nicht dorthin gehört, wo es so schön war. Die Schwarze Stadt war mein wahres Zuhause.
»Der Weiße Ritter ist also zurückgekehrt«, sagte Joern grimmig, als wir am Abend im Bett lagen. »Aber diesmal war niemand da, der auf der Feuerleiter stand und deinen Vater warnen konnte.«
»Er war nicht mein Vater«, sagte ich.
Joern tat so, als hätte er das nicht gehört. »Wir finden ihn«, sagte er entschlossen. »Wir finden den Weißen Ritter, Lasse, und dann geht es ihm an den Kragen.«
»Du redest schon genau wie die vier D«, flüsterte ich und drehte mich zur Wand. »Was willst du denn machen? Mit den Fäusten auf ihn losgehen und Onnar im Gefängnis ein bisschen Gesellschaft leisten?«
Die nächsten Tage waren furchtbar. Es kam mir vor, als wäre ich in ein Loch gefallen, das keinen Boden hatte. Ich fiel und fiel und fiel, tiefer und tiefer und tiefer, und ich kam nirgendwo an. Einmal sah ich Joerns Mutter allein am Küchenfenster stehen und weinen und ich wollte mit ihr weinen, aber ich konnte nicht. In mir waren keine Tränen mehr, nur noch der Kohlenstaub der Schwarzen Stadt.
Später fragte ich mich, warum sie geweint hatte.
Ich ging mit Joern zur Schule und ich weiß nicht einmal, was er den Lehrern sagte, wer ich wäre. Die Schule war anders als der Unterricht bei Herrn Marksen, es reichte aus, wenn man dasaß und schwieg. Und so saß ich da und schwieg und fiel und fiel und fiel.
Ich wusste, dass Joern recht hatte: Wir mussten der Spur des Weißen Ritters nachgehen, solange wir es noch konnten. Doch ich hatte keine Kraft dazu. Mir war alles egal. Ich hatte Joern nicht einmal von dem weißen Band unter dem Küchentisch erzählt. Selbst Joern, mein Freund, wurde mir fremd in diesen furchtbaren Tagen.
Ich dachte oft an jenen Abend, an dem wir mit Flint auf dem Kutschbock gesessen hatten, über uns die hin- und herschwingende Laterne, um uns die Nacht.
»Vergiss nie all das Schöne«, hatte Flint gesagt. »Das Feuer im Kamin. Das Schnurren der Katze. Die Musik und das goldene Licht des Norderhofs und das Wispern im Sommergras. Denk daran, wenn du irgendwann zu viel Böses und Hässliches sehen musst.«
Doch wenn ich jetzt an das goldene Licht des Norderhofs dachte, musste ich auch an das kalte Licht in den rußigen Straßen denken, und wenn ich an den Sommer im Norderwald dachte, dachte ich auch an den Winter in der Schwarzen Stadt. Denn irgendwann würde der Winter kommen und wir würden frieren, weil das Gas zum Heizen zu teuer war. Mein einziger Pullover würde Löcher bekommen und meine Mutter würde sie flicken, immer wieder, bis der Pullover mir selbst
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