Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
Mal wieherte, erkannte ich seine Stimme. Hastig bahnte ich mir einen Weg durch den Sperrmüll und die Fahrradskelette, die den Durchgang zum Hinterhof verstellten. Als ich um die Ecke bog, sah ich das Pferd.
    Es war schwarz.
    Ich hatte gewusst, dass es schwarz sein würde.
    Mit drei Schritten war ich bei ihm, schlang meine Arme um seinen Hals und verbarg mein Gesicht in seiner zerzausten Mähne.
    »Nordwind!«, flüsterte ich. »Nordwind, was tust du hier? Wer hat dich hergebracht?«
    Dabei wusste ich nur zu gut, wer Nordwind hergebracht hatte. Der Weiße Ritter. Er hatte ihn mit einem einfachen Strick an einen verrosteten Wäscheständer gebunden und Nordwind schien die letzten Tage hauptsächlich damit verbracht zu haben, das Gras, das zwischen den Pflastersteinen wuchs, in einem schönen Kreis um den Wäscheständer herum abzurupfen. Jetzt schnaubte er mir seinen warmen Atem in den Nacken und es war, als wiche die Kälte der Schwarzen Stadt. Als wäre ich für Sekunden wieder auf dem Norderhof, wo die goldene Sonne schien.
    »Wir nehmen ihn mit«, sagte ich.
    Joern nickte. »Wir können ihn erst mal in unserem eigenen Hinterhof unterstellen«, sagte er. »Aber dann muss er bald zurück auf die Weiden des Norderhofs. Hier in der Schwarzen Stadt kann er nicht überleben.«
    »Und wen kümmert es, ob ich hier überleben kann?«, rief ich ärgerlich. »Ob wir hier überleben können?«
    »Lasse …«, sagte Joern hilflos und streckte eine Hand nach mir aus.
    Ich drehte mich weg, um Nordwinds weiche Nüstern zu streicheln. »Morgen«, flüsterte ich. »Morgen ist die Beerdigung. Jemand vom Norderhof wird dort sein. Dann geben wir dich zurück.«
    »Warum gehst du nicht mit zurück?«, fragte Joern. »Frentje würde sich sicher freuen.«
    Da schüttelte ich den Kopf. »Ich könnte den Norderhof nicht ertragen«, sagte ich, »nicht ohne Flint.«
    In unserer Straße trafen wir Mama. »Lasse!«, rief sie. »Joern! Wieso sitzt ihr auf einem Pferd? Wohin wollt ihr?«
    »Das ist das Pferd von Lasses Vater«, sagte Joern. »Wir haben es gefunden. Aber wohin willst du ?«
    Flop, der auf Joerns Arm saß, bellte und Nordwind beugte seinen langen Hals, um in Mamas Manteltaschen nach etwas Essbarem zu suchen. Alles, was er fand, war ein zerknülltes Papiertaschentuch und das fraß er. Mama lachte, aber ihr Gesicht sah gar nicht nach Lachen aus. Sie hatte ein Tuch um das braune Haar geschlungen gegen den kalten Wind und sie machte einen sehr entschlossenen Eindruck.
    »Ich gehe zur Fabrik«, sagte Mama. »Ich werde Pöhlke bitten, mich wieder einzustellen. Und wenn er mir nur die Hälfte von meinem früheren Lohn bezahlt. Ich muss wieder arbeiten. Auf Damian und Dario kann man sich nicht verlassen. Und Holm kann uns nicht ewig durchfüttern.«
    »Nein!«, rief Joern. »Das darfst du nicht tun.«
    »Lasst mich vorbei«, sagte Mama. »Du weißt, dass ich es tun muss.«
    »Dann begleiten wir dich«, erklärte ich.
    Und so halfen wir Mama auf Nordwinds starken Rücken, und obwohl sie so ernst und entschlossen war, stellte sie sich an wie ein junges Mädchen.
    »Hu!«, sagte sie. »Ist das hoch! Es wird einem direkt schwindelig dabei! Ich habe noch nie auf einem Pferd gesessen.«
    »Dann halt dich mal gut fest«, sagte ich und ließ Nordwind losgaloppieren.
    Zuerst hatte ich Angst, er würde vor den Autos scheuen, aber Nordwind war genauso tapfer wie stark. Er tat einfach so, als gäbe es die Autos nicht. Wir fegten die Straßen entlang wie eine Sturmböe und die Leute drehten die Köpfeund wunderten sich. Nordwinds schwarzes Fell war auf eine ganz andere Art schwarz als die Schwarze Stadt – es war schwarz wie die klaren Nächte, in denen man durch das große Fernrohr auf dem Norderhof die Sternbilder am Himmel betrachten konnte. Schwarz wie der Samt, mit dem man Schmuckschatullen auslegte. Schwarz wie die Tiefe der Träume.
    »Jetzt soll uns der Weiße Ritter sehen!«, rief ich. »Und er soll zittern vor Angst! Wir haben Nordwind gefunden und wir werden auch das Geheimnis des Weißen Ritters herausfinden!«
    »Ein paar Kjerks können sie uns auch gleich vorbeischicken!«, rief Joern und lachte.
    »Und ein paar Pöhlkes!«, rief Mama.
    Flop bellte wieder und zum ersten Mal seit unendlich langer Zeit fühlte ich mich wieder lebendig.
    So preschten wir die Straße zur Fabrik hinauf. Das Trommeln von Nordwinds Hufen auf dem Asphalt übertönte das Hämmern aus den Stollen. Vor der Fabrik hielt ich ihn an.
    »Geht ihr nur hinein«, sagte

Weitere Kostenlose Bücher