Jenseits der Finsternis
sezierenden Ärzte waren sich daher einig, hier kann eigentlich nur ein Arzt, zumindest aber eine mit Operationen vertraute Person in Frage kommen.
Und nun fiel der Verdacht sofort auf den ehemaligen Assistenzarzt Dr. Ménil-Charbon, der vor einiger Zeit wegen Unterschlagung von Opium und Morphium fristlos entlassen worden war und dafür Professor Labonne blutige Rache geschworen hatte.
Der Fall schien geklärt, es paßte alles großartig zusammen: Ménil-Charbon hatte einige Zeit an der Entwicklung des Kunstherzens mitgearbeitet, wenn auch nicht konstruktiv, so doch bei der Montage, und er war zur Zeit der Operationen an den fünf Frauen noch im Krankenhaus beschäftigt.
Die Staatsanwaltschaft zögerte daher keine Sekunde, einen Verhaftungsbefehl an seinen derzeitigen Aufenthaltsort, La Turbie, hinausgehen zu lassen. Die Antwort kam prompt, befriedigte aber wenig: Ménil-Charbon war vor vier Monaten bei einem Motorradunfall auf der Mittleren Corniche tödlich verunglückt.
Damit hatte man nur eins erreicht: Man hatte nutzlos Zeit vertan, denn die Ärzte im Krankenhaus waren von vornherein überwiegend der Meinung gewesen, der Ménil wäre viel zu feige, um ein so grausames und für ihn sinnloses Verbrechen zu begehen, selbst wenn er den Professor noch so sehr gehaßt haben mochte.
Inzwischen waren alle notwendigen Untersuchungen an den Leichen vorgenommen worden, es fand eine abschließende Sitzung statt, und dabei wurde entschieden, die Opfer nunmehr zur Bestattung freizugeben.
Das Krankenhaus hatte die Angehörigen zu einer Trauerfeier eingeladen; ein Pariser Mäzen hatte die Finanzierung übernommen.
Ein paar Tage danach wurden auch die Habseligkeiten der Ermordeten freigegeben und den Angehörigen übersandt.
Eine Woche später kam ein Brief von der 74jährigen Mutter der Denise Zézalon. Sie bedankte sich beim Krankenhaus, fügte dann aber hinzu, sie vermisse ein goldenes Kettchen mit Anhänger, das ihre Denise ständig um den Hals getragen habe. Es sei sicher keine sonderliche Kostbarkeit, wurde aber in Lourdes geweiht, und viele Gedanken und Erinnerungen der Familie hingen daran. Sie wäre daher sehr dankbar, wenn das Krankenhaus nach dem Schmuckstück forschen würde.
Da man im Krankenhaus bei allem, was die fünf Frauen betraf, ein böses Gewissen hatte, machte man sich sofort daran, nach dem Schmuckstück zu suchen, obwohl man ziemlich pessimistisch war. Eigentlich konnte das Kettchen nur im 6-Bettenraum verlorengegangen sein, aber dort waren inzwischen längst wieder die Kinder eingezogen, und nichts war mehr genauso wie in der Unglücksnacht.
»Wenn wir wüßten, wie das Halskettchen und der Anhänger ausgesehen haben, könnten wir schnell eins anfertigen lassen; aber wer könnte uns da helfen …?«, sagte Professor Labonne.
Dabei wäre es wohl geblieben, wenn man sich darüber nicht im Speisesaal unterhalten hätte.
Hier muß ich eine Einfügung machen, da unsere Geschichte nunmehr ins Meyrinkhafte umschwenkt.
Neben dem Krankenhaus, nur durch eine Brandmauer von ihm getrennt, gibt es ein Gebäude aus der Zeit Ludwigs des Elften. Damals war es für die Opfer von Seuchenkrankheiten wie Pest und Cholera bestimmt. Heute hauste darin die renommierte Elektronik-Werkstätte Donneur et Soncry, die sich mit der Anfertigung und der Reparatur von komplizierten medizinischen Gerätschaften befaßte. Da sich zwischen ihr und dem Sainte-Adeline-Krankenhaus von Zeit zu Zeit ein reger Verkehr anbahnte und man mit den Geräten nicht immer den Umweg über die Straße machen wollte, hatte man die Brandmauer durchbrochen, und nur noch eine Pendeltür trennte an dieser Stelle die beiden Gebäude voneinander.
Als man sich im Speisesaal über das verschwundene Goldkettchen unterhielt, war gerade der Feinmechanikmonteur Emile Sauveure anwesend. Er reparierte aus Gefälligkeit in der Kinderabteilung den Motor eines Karussells und wurde dafür mit einem Imbiß belohnt.
»Entschuldigen Sie, wenn ich mich einmische«, sagte er zu Dr. Sabatte, »nicht, daß ich Sie belauscht hätte, aber es schallt hier ein wenig, und so hörte ich von Ihrer Suche nach dem Goldkettchen. Vielleicht interessiert es Sie: Wir haben ein solches bei uns am Boden gefunden. Es liegt bei der Buchhalterin im Schreibpult.«
»Aber das kann es kaum sein«, sagte Professor Labonne. »Wie sollte es wohl in Ihre Werkstatt gekommen sein?«
»Das weiß ich natürlich auch nicht. Wir hatten damals vor, eine Suchaktion zu starten, haben es dann aber
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