Jenseits Der Schatten
ignorierte sie. Der Mann hatte schon immer Nerven aus Stahl gehabt. »Dorian«, sagte er. »Dorian.«
Dorian hatte Solon einmal eine Prophezeiung gemacht. Vor zehn, zwölf Jahren? Sie hatte mit folgenden Worten geendet: »Zerstört der Norden, zerstört du, wiedererstanden durch ein Wort von dir.« Nahm der unverschämte Bastard an, dass das Wort »Dorian« lautete? Er wendete Dorians eigene Prophezeiung gegen ihn selbst? Solons Lippen umspielte ein kleines Grinsen, das Dorian so gut kannte. Ein Lachen entrang sich Wahnhoffs Kehle und wurde dann zu einem erstickten Schluchzen. Es klang wahnsinnig, sogar in seinen eigenen Ohren.
Er blickte den Hügel hinunter. Moburu hatte die Cenarier, die Jenine bei sich hatten, erreicht, und der Ferali pflügte sich in einer Wolke aus schwarzem Staub durch sie hindurch, riss sie in Stücke, fügte ihre Leiber seinem eigenen Fleisch hinzu - und wuchs.
Im Innern der Burg arbeitete Neph daran, Khali Fleisch zu geben. Die Göttin würde ganz Midcyru versklaven, vielleicht die
ganze Welt. Versklaven und vernichten. Ohne einen Körper hatte sie Khalidor in einen Kessel des Schmutzes verwandelt, eine Kultur der Angst und des Hasses. Was würde sie erst mit einem Körper ausrichten? Das Beste, was Dorian tun konnte, war, sie aufzuhalten. Gottkönig Wahnhoff konnte Neph aufhalten. Er kannte Neph. Er wusste, wie Neph kämpfen würde. Das Mädchen war peripher, eine Ablenkung in dem großen Bild. Dorian war zu wichtig, seine Fähigkeiten zu wertvoll, um einem Mädchen nachzulaufen, wenn die eigentliche Schlacht - die Schlacht, die das Schicksal von Nationen, vielleicht das Schicksal von ganz Midcyru bestimmen würde - nur wenige Schritte entfernt stattfand. Dorian würde ein letztes Mal als Gottkönig Wahnhoff hineingehen. Er würde ein letztes Mal die Vir ergreifen und alles vernichten, was Neph Dada angerichtet hatte. Er würde Khalis Werke zerstören - und er würde sterben. Sein Kampf würde endlich hinter ihm liegen. Außerstande, gut zu leben, würde er zumindest gut sterben.
Außerdem war Jenine tot für ihn.
»Dorian«, sagte Solon. »Dorian, komm zurück.«
Jenine war tot für Gottkönig Wahnhoff, sie war tot sogar für Dorian - aber sie war nicht tot. Die Illusion war die gleiche Verführung, die ihn hundert Mal verlockt hatte: Lasse dieses gegenwärtige Übel bestehen, um einer großartigen Zukunft willen. Um eine ganze Nation zu verändern, um das Böse ungeschehen zu machen, das sein Vater über die Menschen gebracht hatte, hatte er einen Harem genommen, hatte Krul erweckt, Kinder abgeschlachtet, Mädchen vergewaltigt und einen Krieg begonnen. Tatsächlich hatte er die meisten Dinge getan, für die er seinen Vater hasste, und in erheblich weniger Zeit. Die Wahrheit war, es war Dorian immer wichtiger gewesen, als ein guter Mann bekannt zu sein, als wirklich einfach gut zu sein. Und er war drauf und dran,
es wieder zu tun. Kein Wunder, dass er so gern bereit gewesen war, in Schreiende Winde seine prophetische Gabe wegzuwerfen: Er hatte damals gesehen, wozu er werden würde.
»Geht hinein, tötet den Usurpator«, befahl Gottkönig Wahnhoff seinen Vürdmeistern. »Ich werde gleich folgen.« Sie eilten sofort hinein. Vielleicht würden sie sogar gehorchen. Es spielte keine Rolle. Er konnte sie nicht hier bei sich behalten. Sie würden versuchen, ihn aufzuhalten. »Ihr auch«, sagte er zu seinen Leibwächtern, und sie gehorchten ebenfalls sofort.
Obwohl sein Magen revoltierte, als er seine Magie auch nur berührte, machte Dorian die Zaubergewebe bereit und ließ sich keine Zeit zum Nachdenken. Er kannte diese Gewebe; er hatte sie als junger Mann einmal benutzt. Es war wahrscheinlich zu wenig, zu spät. Auf keinen Fall konnte er für das bezahlen, was er getan hatte. Er sollte einfach Neph zerquetschen und sterben.
Nein, dies war dieselbe Stimme, der er zu viele Male gehorcht hatte. Wann immer er beschloss, über die Versuchung nachzudenken, verfiel er der Versuchung. Jetzt war die Zeit zu handeln. Einfach Gutes zu tun, ob irgendjemand jemals davon erfuhr oder nicht, ob es genug war oder nicht.
Mit einem tiefen Atemzug und so viel Magie, wie er auf bringen konnte, riss er die Vir aus sich heraus. Teile seiner Magie wurden mit den Vir abgerissen, während er tiefer und tiefer schnitt. So tief, dass er nie wieder würde kontrollieren können, wann seine prophetische Gabe kam oder ging. Der Wahnsinn, den er so lange gefürchtet und gegen den er so lange angekämpft hatte, würde
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