Jenseits Der Schatten
drehte, und alle fünf Minuten überlappte sich der Dienst eines anderen Wachpostens von der gegenüberliegenden Seite mit dem Dienst des ersten. Kylar konnte die Schuld jedoch nicht bei den Unterbrechungen suchen. Er fand einfach den Schließmechanismus nicht, der die Tür öffnete. Vielleicht war es der Schneematsch, der seine Finger unbeholfen vor Kälte machte. Oder vielleicht war er einfach nicht so gut, wie er dachte.
Unsterblich, nicht unbesiegbar. Warum musste Durzo ständig recht haben? Wenn ich darüber nachdenke, wo zur Hölle steckt Durzo eigentlich?
Der Gedanke machte Kylar mehr zu schaffen, als er erwartet hätte. Er hatte Monate in dem Glauben gelebt, sein Meister
sei tot. Während all dieser Monate hatte Durzo sich nicht die Mühe gemacht, Kylar aufzusuchen. Kylar hatte sich für den besten Freund seines Meisters gehalten. Selbst als Aristarchos ban Ebron ihm von all den Helden der Vergangenheit erzählt hatte, die niemand anderer als sein Meister gewesen waren, hatte Kylar noch immer geglaubt, seine Beziehung zu Durzo sei etwas Besonderes gewesen. In gewisser Weise hatte das Wissen, hinter welch großen Männern sich sein Meister verbarg, Kylars Selbstachtung gestärkt. Aber die Zeit war vorangeschritten, und anscheinend hatte Durzo das Gleiche getan. Welch flüchtige Bedeutung Kylar auch in dem sieben Jahrhunderte langen Leben dieses Mannes gehabt haben mochte, dieses Kapitel war zu Ende.
Kylar setzte sich auf den Felsen. Der Hagel durchnässte ihn binnen Sekunden bis auf die Unterwäsche. Jetzt fühlte er sich noch elender.
~Erzähl mir nicht, dass du jetzt anfangen wirst zu weinen.~
Hast du was dagegen?
~Weck mich, wenn dein Selbstmitleid abgeklungen ist, ja?~
Zur Hölle mit dir, du klingst genau wie Durzo.
~Also: Ich bin sieben Jahrhunderte lang Tag und Nacht mit dem Mann verbunden, und er färbt tatsächlich auf mich ab. Du verbringst zehn Jahre mit ihm, und schau dir an, wie sehr du ihm ähnelst.~
Dies traf Kylar unerwartet. Ich bin nicht wie er.
~Nein, du bist lediglich ganz zufällig hier und versuchst - wieder einmal - allein die Welt zu retten.~
Er hat das oft getan?
~Hast du schon mal von der Miletianischen Regression gehört? Vom Tod der Sechs Könige? Von dem Vendazianischen Aufstand? Der Flucht der Grasq-Zwillinge? ~
Kylar zögerte. Ähm, tatsächlich … nein.
Der Ka’kari seufzte. Kylar fragte sich, wie er das machte.
»Ich bin ein Idiot«, sagte Kylar und stand auf. Sein Hintern war taub.
~Was für eine Eingebung! Und lange überfällig. Aber andererseits habe ich gelernt, nur wenig zu erwarten.~
Kylar beschloss, sich zunächst einmal die Stadtmauer genauer anzusehen. Die letzten hundert Schritte waren frei von ceuranischen Soldaten - keiner von ihnen war töricht genug, sich in Bogenschussweite der Verteidiger zu wagen. Nur am Ufer des Plith waren die Ceuraner näher an die Befestigung herangegangen. Sie hatten große Mengen von Steinen dort hingeschafft, um einen Teil des Flussbetts zuzuschütten. Am Ufer entlang und auf den Zuwegen hatten sie einen Gang angelegt, um die Arbeiter vor Pfeilen zu schützen. Die Meister hatten jeden Zuweg zur Stadt geschützt, nur den Fluss nicht. Sie mussten wohl geglaubt haben, so vermutete Kylar, dass einige wenige Meister auf jedem Ufer Schiffe oder Schwimmer daran hindern konnten, die Stromenge in die Stadt zu überwinden. Die Cenarier hatten aber keine Meister. Hier würde Garuwashi angreifen. Sobald die Aufschüttung weit genug gediehen war, konnte er auf diesem Weg die ersten Soldaten zu kleinen Scharmützeln in die Stadt schicken.
Wenn die Sa’ceurai kamen und Mann gegen Mann gegen cenarische Soldaten kämpften, hatte Kylar keinen Zweifel daran, wer am Ende des Tages mehr Tote zu beklagen haben würde.
Kylar trat an die Mauer heran. Die großen Steine waren mit Zaubern gehärtet und enger an ihre Nachbarn gefügt worden, als es ihr Gewicht allein und etwas Mörtel vermocht hätten. Kylar zog den Ka’kari in seine Hände und Füße.
~Ich sollte dich einfach schwimmen lassen. ~
Kylar grinste und spürte, wie der Stein sich unter seinem Griff kräuselte. Er begann zu klettern.
Jedwede Hoffnung, dass Terah Graesin keine Dummheiten
machen würde, erstarb, als er die Mauerkrone erreichte. Vier Stunden vor Morgengrauen waren Vorbereitungen für einen Angriff auf die Sa’ceurai im Gange. Die meisten Soldaten schliefen wohl noch, und die Pferde standen nach wie vor in ihren Ställen, aber am Südtor war innerhalb der Mauern
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