Jenseits Der Schatten
Dorian. »Ihr habt die Chroniken gelesen. Dorian ist seit zwölf Jahren tot. Und jetzt ist Paerik tot. Und Draef ist tot. Und Tavi. Und Jurik. Und Rivik. Und Duron und Hesdel und Roqwin und Porrik und Gvessie und Wheriss und Julamon und Vic. Tot, all jene, die meine Entschlossenheit hinterfragt haben. Also hat jetzt ein jeder von Euch eine Wahl. Werdet Ihr meine Entschlossenheit hinterfragen und versuchen, diesen
Thron zu ergreifen, oder werdet Ihr meine Feinde versammeln und sie zu mir bringen?«
Dorians Gesicht war vollkommen leidenschaftslos. So musste es sein. Er hatte weder Magie übrig noch Vir. Der Thron verfügte über einige interessante Kräfte, aber nicht genug, um zweihundert Meister zu vernichten.
Plötzlich fragte er sich, ob irgendeinem von ihnen klar sein mochte, wie verletzlich er war. Es würde keiner Attacke bedürfen, um Dorian zu vernichten. Es würde nur eines einzigen Hohngrinsens bedürfen.
Aber diese Männer waren darin ausgebildet, Autorität nicht zu verhöhnen, ganz gleich, wie sehr sie sie verabscheuten. Der Augenblick dehnte sich unerträglich in die Länge, dann beugte ein junger Mann vor seinem Gottkönig das Knie. Dann ein weiterer. Dann brach Hektik aus in dem Bestreben, nicht der Letzte zu sein.
Dies zumindest schulde ich dir, Vater. Du grausamer, brutaler, erstaunlicher Mann. Sie nannten dich einen Gott, und du brachtest sie dazu, es zu glauben.
Der neue Gottkönig heuchelte keine Überraschung. Er begann Befehle zu erteilen, und sie gehorchten, rannten, um die Sicherheit der Konkubinen zu gewährleisten, rannten, um die lebenden Edelinge gefangen zu nehmen, rannten, um sich um die Armeen zu kümmern, um die Anführer der Stadt und die Häuptlinge aus dem Hochland und dem Tiefland herbeizurufen und um die Meister zu versammeln, die sich während der Kämpfe versteckt hatten.
»Was habe ich getan?«, fragte Dorian Jenine leise, als es geschehen war.
Sie antwortete nicht. Es waren noch immer Männer und Meister im Thronsaal. Es hätte sich gut anfühlen sollen, so große Macht an sich zu ziehen, so große Macht, um alles zu verändern,
was er an seinem Heimatland hasste. Stattdessen hatte er das Gefühl, in der Falle zu sitzen.
»Euer Heiligkeit«, sagte der junge, rothaarige Vürdmeister, der am nächsten daran gewesen war, sich zu widersetzen. »Wenn … wenn Dorian tot ist, Euer Heiligkeit, wie dürfen wir Euch nennen?«
Gottkönig Dorian war natürlich unmöglich. Nicht nur, weil sein Vater ihn hatte tot sehen wollen. Dorian wollte nicht, dass Solon oder Feir oder irgendein Magus jemals davon hörte. Besser, sie hielten ihn für tot. Sieht so aus, als müsste ich auf die eine oder andere Weise durch Scheiße waten, hm, Gott? Aber der Gott antwortete nicht. Der Gott war weit entfernt, und Dorians Herausforderungen waren hier, unmittelbar und tödlich.
»Ich bin … Gottkönig Wahnhoff.« Wahnhoff war ein archaisches Wort, das Verzweiflung bedeutete. Als er Jenine ansah, wirkte sie verängstigt, aber entschlossen. Er drückte ihre Hand. Sie ist es wert. Wir werden das hier schaffen. Irgendwie.
20
Während Vi an diesem Nachmittag vom Pass hinabstieg, wurde aus dem Schnee Hagel und schließlich Regen. Wälder wichen Bauernhöfen, obwohl sie auf der Straße niemandem begegnete. Kein Mensch, der bei Verstand war, ging bei diesem Wetter nach draußen. Vi umrundete eine Ecke und stand plötzlich vor Schwester Ariel, die mit der ganzen Anmut eines Kartoffelsacks auf einer Stute saß. Im Gegensatz zu Vi, die jämmerlich durchgeweicht war, war diese Misthexe nicht einmal nass. Einen Zollbreit
über ihrer Haut und ihrer Kleidung wurde der Regen abgelenkt, lief in kleinen Bächen über eine unsichtbare Hülle und fiel zu Boden. Sie lächelte wohlwollend. »Hallo, Vi. Es tut gut zu sehen, dass du lebst. Ich habe heute Morgen eine sehr seltsame Nachricht erhalten, die mir von deiner Ankunft berichtete.«
»Von Dehvi?«, fragte Vi.
»Von wem?«
»Dehvira-irgendetwas Bruhmaezi-irgendetwas«, antwortete Vi.
»Dehvirahaman ko Bruhmaeziwakazari?«, fragte Schwester Ariel, wobei sie sowohl die Melodie als auch den Tonfall perfekt hinbekam. Miststück!
»Richtig.«
Schwester Ariel grinste. »Du bist eine sehr beeindruckende junge Frau, Vi, aber der Geist der Steppen - wenn auch nur eine Legende - ist seit zweihundert Jahren tot. Irgendjemand hat sich einen Spaß mit dir erlaubt.«
»Der was?«, hakte Vi nach.
»Warum bist du hier, Vi?«, wollte Schwester Ariel wissen. »Keine
Weitere Kostenlose Bücher