Jenseits Der Schatten
Lügen. Bitte.«
Sofort war Vi wieder hin- und hergerissen zwischen Zorn und Tränen, außer Kontrolle. Sie war früher nie so gewesen. Seit sie Jarl ermordet hatte, war sie die reinste Katastrophe. Kylar mit den Ringen an sie zu binden hatte es nur noch schlimmer gemacht. Selbst die Dinge, die gut hätten sein sollen, wie die Nachricht von Hus Tod und ihre Hilfe bei der Ermordung des Mannes, der ihr Vater zu sein behauptet hatte, des Gottkönigs Garoth Ursuul, hatten sie nur noch schlimmer aus dem Gleichgewicht gebracht. »Ich bin hier, um wie Ihr zu werden, Miststück. Um zu manipulieren, statt manipuliert zu werden. Um die Beste zu werden.« Sie zog an ihrem Ohrring. »Und um dieses verdammte Ding loszuwerden.«
Schwester Ariels Gesicht wurde vollkommen reglos, und ihre Lippen wurden weiß. »Um deinetwillen möchte ich dir dringend empfehlen, dir andere Gründe auszudenken, wenn die Torhüterin dich befragt. Wie wäre es also, wenn du den Mund halten würdest, und ich werde so tun, als seist du eine normale junge Frau, die sich unserer Schwesternschaft anschließen möchte?«
Es dauerte lange, bis Vis Zorn sich weit genug gelegt hatte, dass sie nicken konnte.
Gemeinsam ritten sie durch den Regen, und schon bald tauchte die Stadt aus den tiefhängenden Wolken auf. »Sie heißt Seestadt«, erklärte Schwester Ariel, »aus naheliegenden Gründen.«
Die Stadt und die Chantry lagen am Zusammenfluss zweier Flüsse, die oberhalb des Vestacchi-Sees aufgestaut waren. Alle Gebäude der eigentlichen Stadt und der Chantry befanden sich auf Inseln im Stausee. Die nächstgelegene war fünfzig Schritt vom Ufer entfernt. Gewölbte Brücken verbanden jede Insel mit ihren Nachbarn und mehrere mit dem Ufer, aber Straßen gab es keine. Stattdessen befuhren niedrige, flache Kähne die Wasserwege. Einige von ihnen waren wegen des Regens mit einer Abdeckung versehen, andere offen. Aber alle bewegten sich weit schneller, als es hätte möglich sein sollen.
Auch als Vi und Ariel die Vororte von Seestadt erreichten, die sich am Ufer des Stausees an den Brückenköpfen gebildet hatten, sahen sie niemanden. Alle Kaufleute schienen in ihren Häusern aus Lehm und Flechtwerk am Herd zu sitzen, wenn man nach dem aus Schornsteinen oder Abzugslöchern quellenden Rauch ging.
»Durch eine uralte Magie, die wir immer noch nicht nachahmen können, schwimmen die Inseln«, sagte Schwester Ariel. »Der ganze Damm kann in Kriegszeiten geöffnet und die Inseln in den See gespült werden. Natürlich mussten wir das seit Jahrhunderten
nicht mehr tun. Was eine gute Sache ist. Ich denke, es muss eine Menge Arbeit sein, die Inseln danach wieder hierherzuschleppen.«
»Es ist wunderschön«, sagte Vi. »Das Wasser ist so sauber.«
»Die Stadt wurde zu einer Zeit erbaut, da Magie benutzt wurde, um Bauern und Fischern zugutezukommen. Es gab in jeder Stadt spezielle Bäche, die die Flecken aus den Kleidern der Bewohner saugten. Es gab Pflüge, die ein einzelner Ochse ziehen konnte, der mit einer einzigen Bahn sechs Furchen umzubrechen vermochte. Es gab kostenlose öffentliche Bäder mit heißem und kaltem Wasser, je nach Wunsch. Und Amulette, die verhinderten, dass Fleisch verdarb. Die Menschen betrachteten Magie als ein Werkzeug, nicht nur als eine Waffe. In Seestadt werden die Abwässer und Nachttöpfe in diese Rohre geleert, die - schnupper mal, ohne jeglichen Gestank - sie direkt zum Damm bringen. Da man aber niemals alle dazu bringt, selbst einem vernünftigen Gesetz zu gehorchen - zum Beispiel, die Nachttöpfe nicht in das Wasser zu schütten, das man noch trinken will -, ist der See selbst mit Zaubern versehen, die ihn reinigen.«
Schwester Ariel führte sie zu einem weißen Kahn am Ende der Anlegestelle. Ein Junge huschte in den Regen hinaus, um ihre Pferde zu nehmen, und Vi griff nach ihren Taschen und stieg auf den Kahn. Schwester Ariels offenkundige Angst, das Boot könne kentern, tröstete sie ein wenig. Sobald sie auf den niedrigen, nassen Sitzen Platz genommen hatten, begann der Kahn sich von selbst zu bewegen.
Vi umklammerte mit weißen Knöcheln den Rand des Bootes.
Schwester Ariel lächelte. »Dies dagegen ist Magie«, sagte sie, »die wir wirken können.« Sie gerieten schnell in die breiteren Wasserstraßen, und das kleine Boot drehte sich aus eigenem Antrieb.
»Die Strömung wechselt in regelmäßigen Abständen. Wenn du
dich auskennst, kannst du mit dem Strom von einem bis zum anderen Ende der Stadt fahren.«
Nach einigen
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