Jenseits Der Schatten
Minuten glitten sie über eine weite Wasserfläche, auf der nur eine einzige Insel schwamm - die größte von allen. »Schau! Die Weiße Dame. Der Alabasterseraph. Die Chantry. Der Seraph von Nerev. Und für dich jetzt, Vi, dein Zuhause.«
Die Chantry hatte schon zuvor groß gewirkt, aber jetzt, da sie sich ihr näherten, wurde offenbar, wie gewaltig sie war. Das gesamte Gebäude war wie die Statue einer geflügelten, engelsgleichen Frau geformt. Sie war zu massiv, um tatsächlich aus Alabaster zu sein, zu perfekt weiß, um Marmor zu sein. Der Stein leuchtete selbst im fahlen Licht dieses trüben Tages. Vi vermutete, dass er bei Sonnenlicht blendend sein würde. Als sie näher kamen, bemerkte Vi etwas, das aus der Ferne wie Erosion aussah oder wie Altersfurchen in der Oberfläche der Statue. Dann stellte sich jedoch heraus, dass es in Wirklichkeit Fenster und Terrassen für die ungezählten Räume darin waren.
Die Flügel des Seraphs waren zur Hälfte entfaltet, und er hielt in der linken Hand ein Schwert mit gesenkter Spitze. Auf dem Gesicht der Engelsfrau lag ein kühler Ausdruck. Während der Kahn zur Rückseite der Insel fuhr, sah Vi, dass die rechte Hand der Statue hinter dem Rücken eine Waage hielt - mit einer Feder auf der einen Schale und einem Herzen auf der anderen.
Hunderte von Anlegestellen drängten sich auf der rückwärtigen Seite der Insel, und trotz des Regens wurden Dutzende von Booten mit allen möglichen Vorräten gelöscht wie beladen, und Menschen stiegen ein oder aus. Ihr weißer Kahn glitt unter einem Bogen aus Blauregen hindurch, der unmöglicherweise noch immer mit einer Überfülle purpurner Blüten bedeckt war. Am nächsten Anleger blieb der Kahn stehen, und zwei Schwestern in schwarzen Roben begrüßten sie.
»Vi, geh mit ihnen«, sagte Schwester Ariel. Sie schwieg kurz, dann fügte sie hinzu: »Keine Drohung, die sie aussprechen, ist müßig. Es sind Jahre vergangen, seit jemand während der Initiation gestorben ist, aber es kann vorkommen. An welchen Gott du auch immer glaubst, er möge mit dir sein. Und wenn du an gar keinen glaubst, viel Glück.«
Das Schlimmste war nicht die Tatsache, dass der letzte Gott, den Vi jetzt bei sich haben wollte, Nysos war, dem sie ihren Körper und ihre Seele und das Blut so vieler Unschuldiger dargeboten hatte. Das Schlimmste war der Umstand, dass Schwester Ariels gute Wünsche absolut aufrichtig klangen.
21
Der erste Schritt bestand darin, in die Stadt zu gelangen. Kylar wusste, dass es Dutzende von Schmugglerrouten geben musste, aber deren Lage gehörte nicht zu den Informationen, die ein Schmuggler auf Versammlungen der Sa’kagé zum Besten gaben. Er wusste jedoch, wonach er suchte. Der Zugang würde sich nicht weiter als einige hundert Schritt von den Mauern entfernt befinden, gut getarnt irgendwo auf Fels oder Stein, damit keine Spuren von Hufen und Wagen ihn verrieten, und in der Nähe einer der Hauptstraßen.
Auf den niedrigen Hügeln rings um die Stadt hatten noch vor einem Monat Gebäude jede Straße gesäumt: Tavernen, Bauernhäuser, Herbergen und Häuser aller anderen Gewerbe, die Reisende versorgten, denen Quartier oder Dienste in der Stadt zu kostspielig waren. Jetzt gab es keine Gebäude mehr.
Die Ceuraner hatten alles genommen. Sie hatten jedes Gebäude geplündert und die Baustoffe in ihr Lager gebracht. Kylar konnte die Hektik nur erahnen, in der die Sa’kagé hatten entscheiden müssen, welche Tunnel zum Einsturz gebracht und welche gerettet werden sollten, in der Hoffnung, sich ihren eigenen Weg hinaus aus der Stadt zu erhalten, sollte alles andere scheitern.
Langsam bewegte er sich durch das ceuranische Lager, huschte von Schatten zu Schatten. Er hatte die Unsichtbarkeit gegen ein nebliges Schwarz getauscht und hoffte, es würde schwerer zu erkennen sein als die eigenartigen Formen, die der Schneeregen auf etwas bildete, das nicht da war.
Schließlich entdeckte er einen großen, niedrigen Felsen in kaum einem Schritt Entfernung von der Hauptstraße mit Bäumen zu beiden Seiten. Er war perfekt. Wenn der Felsen aufschwang, konnten Schmuggler ihren Wagen ungesehen auf die Hauptstraße lenken, ohne dabei Spuren zu hinterlassen. Kylar wischte den Hagel vom Fels und sah verräterische Kratzer, wo eisenummäntelte Wagenräder über den Fels geknirscht waren. Dies war es.
Zehn Minuten später hatte er noch immer keine Fortschritte gemacht. Alle zwei Minuten musste er sich verstecken, während ein Wachposten seine Runden
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