Jenseits der Sehnsucht (German Edition)
jahrein, solange sie denken konnte. In dieser Beständigkeit lag etwas Beruhigendes.
Und doch war es gerade diese Beständigkeit, die Sunny rastlos nach dem Neuen, dem Unbekannten, dem Unentdeckten suchen ließ.
Mit einem Seufzer lehnte sie sich zurück und ignorierte die Kälte. Was war es denn, was sie suchte und hier nicht finden konnte? Oder an jedem anderen Ort, an dem sie bisher gewesen war, nicht gefunden hatte? Und doch war sie auf der Suche nach der Antwort hierher gekommen, zu dieser Hütte.
Sie war hier geboren worden, hatte ihre ersten Lebensjahre hier verbracht. Vielleicht war sie deshalb zurückgekommen, da sie an einen Punkt in ihrem Leben gelangt war, an dem alles so unnütz schien. Um etwas von dieser Schlichtheit einzufangen.
Sie liebte die Hütte. Wirklich. Natürlich nicht mit der gleichen Leidenschaft wie ihre Schwester Libby oder mit diesem tiefen Zugehörigkeitsgefühl ihrer Eltern. Nein, sie hing an dem Haus, so wie Kinder oft an einer exzentrischen alten Tante hingen.
Sunny könnte sich nie vorstellen, hier wieder zu leben, auch wenn sie sich in der Hütte so wohl fühlte. So wie Libby und ihr Mann. Tag für Tag, Nacht für Nacht, ohne je eine andere Menschenseele zu sehen. Vielleicht hatte Sunny ihre Wurzeln hier im Wald, aber ihr Herz gehörte der Stadt, der Stadt mit den vielen Lichtern und den unbegrenzten Möglichkeiten.
Nur ein Urlaub, sagte sie sich, zog die Wollmütze vom Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch das kurze Haar. Den hatte sie sich verdient. Immerhin war sie im zarten Alter von sechzehn aufs College gegangen. Zu intelligent für ihr eigenes Seelenheil. Wie oft hatte ihr Vater das nicht gesagt! Und nachdem sie knapp vor ihrem zwanzigsten Geburtstag ihren Abschluss gemacht hatte, hatte sie sich von einem Projekt ins nächste gestürzt. Und war nie wirklich zufrieden gewesen.
Sie war gut in dem, was sie tat, ganz gleich, was sie tat. Vermutlich hatte sie deshalb all diese Kurse belegt, angefangen von Stepptanz bis hin zu Emaillieren. Aber gut in etwas zu sein, machte es nicht unbedingt richtig. Also war sie zum Nächsten übergegangen, immer unzufrieden, immer mit dem beständig schlechten Gewissen, die Dinge nicht zu Ende gebracht zu haben.
Es war an der Zeit, Ruhe einkehren zu lassen. Eine bestimmte Richtung einzuschlagen. Deshalb war sie hergekommen. Um nachzudenken, um zu überlegen, um eine Entscheidung zu fällen. Mehr nicht. Sie versteckte sich nicht hier. Nur weil sie ihren letzten Job verloren hatte. Nein, die zwei letzten Jobs, korrigierte sie sich.
Wie auch immer, sie hatte genügend Ersparnisse angesammelt, um den Winter zu überstehen. Hier konnte man ja sowieso kein Geld ausgeben. Hätte sie ihrem Impuls nachgegeben und wäre in die nächstbeste Maschine nach Portland oder Seattle oder sonst wohin gestiegen, dorthin, wo etwas los war, wäre sie innerhalb einer Woche pleite gewesen. Sie würde den Teufel tun und auf Knien zu ihren Eltern zurückkriechen! Auch wenn die sie sofort mit offenen Armen aufgenommen hätten.
»Du hast dir vorgenommen zu bleiben«, murmelte sie, als sie die Wagentür öffnete. »Und bleiben wirst du. Bis du dir klar darüber geworden bist, was zu Sunny Stone passt.«
Mit den beiden großen Provianttüten, die sie in der Stadt besorgt hatte, stapfte sie durch den Schnee zum Haus. In diesen beiden Monaten hier konnte sie sich beweisen, dass sie selbstständig war. Wenn sie nicht vorher vor Langeweile umkam.
Ein Blick auf das munter prasselnde Feuer im Kamin befriedigte sie. Es brannte noch, die Sommerlager mit den Pfadfinderinnen waren also nicht umsonst gewesen. Sunny setzte die beiden Tüten auf der Anrichte in der Küche ab. Ihre Schwester Libby hätte sich sofort darangemacht, die Sachen zu verstauen. Sunny dagegen war der Überzeugung, dass es reine Zeitverschwendung war, Dinge an einen Platz zu stellen, von dem man sie früher oder später doch wieder wegholen würde.
Achtlos warf sie ihre dicke Jacke über eine Stuhllehne und kickte ihre Stiefel in eine Zimmerecke. Aus einer der Tüten förderte sie einen Müsliriegel zutage und ging damit in den Wohnraum. Den Nachmittag würde sie jetzt damit verbringen, sich zu informieren. In letzter Zeit hatte sie mit dem Gedanken gespielt, wieder an der Uni anzufangen und Jura zu studieren. Die Vorstellung, sich mit Streiten und Argumentieren seinen Lebensunterhalt zu verdienen, hatte einen gewissen Reiz. Zusammen mit Kleiderkoffern, Kamera, Zeichenblock, Kassettenrekorder und
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