Jenseits der Sehnsucht (German Edition)
Tanzschuhen hatte sie auch eine ganze Kiste mit Büchern über die verschiedensten Berufe mitgebracht.
In ihrer ersten Woche hier hatte sie sie alle durchgelesen. Drehbücher zu schreiben war ihr zu unsicher, Medizin zu blutig und eine Boutique für Retro-Kleidung einfach zu trendy.
Aber die Jurisprudenz bot da so einige Möglichkeiten. Sunny konnte sich sehr gut vorstellen, als knallharte Staatsanwältin zu arbeiten oder als idealistische und völlig überarbeitete Pflichtverteidigerin.
Immerhin ist es wert, sich die Sache einmal genauer anzusehen, entschied sie, während sie die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinaufstieg. Je schneller sie eine Entscheidung traf, desto eher konnte sie an einen Ort zurückkehren, an dem es interessantere Dinge zu beobachten gab als schmelzenden Schnee.
Sie hatte den Müsliriegel schon halb zum Mund geführt, als sie auf der Schwelle zu ihrem Schlafzimmer erstarrte. Der Mann stand neben dem Bett – ihrem Bett –, ganz augenscheinlich in das Modemagazin vertieft, das sie gestern Abend achtlos auf den Boden geworfen hatte. Jetzt hielt er es in den Händen und befühlte das Hochglanzpapier mit den Fingern, als handle es sich um einen wertvollen Stoff.
Zwar stand er mit dem Rücken zu ihr, aber dass er groß war, konnte sie sehen. Bestimmt zehn Zentimeter größer als sie, und sie war schon nicht klein. Sein dunkles Haar fiel ihm über den Kragen seines Pullovers, und es wirkte, als wäre er in einem Wagen mit offenem Verdeck gefahren. Mit angehaltenem Atem musterte sie ihn weiter.
Sollte es sich bei ihm um einen Wanderer handeln, so war er ziemlich dürftig, wenn auch einwandfrei gekleidet. Seine Jeans war fabrikneu, auf den – wenn sie sich nicht täuschte – sehr teuren und handgefertigten Stiefeln noch kein einziger Kratzer. Nein, nach einem Naturburschen sah er nicht aus, schon gar nicht nach einem, der es mit dem Winter in den Bergen aufnehmen würde.
Er war von schlanker Statur, obwohl … unter dem weiten Pullover ließen sich Muskeln nur schwer ausmachen. Sollte er ein Dieb sein, dann war er ein extrem dummer Dieb, der sich an einer Zeitschrift festlas, anstatt einzupacken, was an Wertgegenständen in der Hütte zu finden war, und die Beine in die Hand zu nehmen.
Ihr Blick ging zu ihrem Schmuckkästchen auf der Kommode. Ihre Sammlung war weder groß noch besonders wertvoll, aber jedes einzelne Stück mit Sorgfalt ausgewählt und ohne Rücksicht auf den Preis. Und der Schmuck gehörte ihr. Wie auch diese Hütte die ihre war und ebenso das Zimmer, in das er eingedrungen war.
Wütend ließ sie den Müsliriegel fallen, schnappte sich die erstbeste Waffe, die ihr in die Finger kam – eine leere Limonadenflasche –, und stürzte sich nach vorn.
Jacob hörte ein Geräusch und erhaschte eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Instinktiv drehte er sich um, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie eine Flasche haarscharf an seinem Ohr vorbeizischte und mit einem explosionsartigen Knall auf dem Nachttischchen in tausend Scherben zerbarst.
»Was, zum Teufel …«
Bevor er ein weiteres Wort herausbringen konnte, wurden ihm die Füße weggerissen, und er fand sich flach auf dem Rücken wieder. Vom Boden aus starrte er zu einer großen, schlanken Frau mit kurzen blonden Haaren und funkelnden grauen Augen empor. Sie stand da, die Knie leicht gebeugt, die Arme angewinkelt, die Hände in Kampfstellung.
»Überleg dir gut, was du tust«, warnte sie ihn, mit einer Stimme, die so rauchig war wie ihre Augen. »Ich will dich nicht verletzen, also steh jetzt ganz langsam auf. Und dann mach, dass du hier rauskommst. Ich gebe dir genau dreißig Sekunden.«
Ohne sie aus den Augen zu lassen, richtete er sich erst einmal auf einem Ellbogen auf. Wenn man sich dem Angehörigen einer primitiven Kultur gegenübersah, sollte man es wohl am besten langsam angehen lassen. »Entschuldigung?«
»Du hast mich verstanden, Freundchen. Ich habe den Schwarzen Gürtel, vierter Grad. Leg dich mit mir an, und ich zerquetsche dir deinen Schädel wie eine Walnuss.«
Bei diesen Worten lächelte sie. Unter anderen Umständen hätte er ihr vielleicht eine Erklärung und seine Entschuldigung angeboten. Aber sie lächelte. Und eine Herausforderung war nun mal eine Herausforderung.
Mit einer geschmeidigen Bewegung kam er auf die Beine, in der gleichen Stellung wie sie. Er sah die Überraschung in ihren Augen, keine Angst, sondern Überraschung. Ihren ersten Schlag blockte er mit dem Unterarm ab, aber er fühlte die
Weitere Kostenlose Bücher