Jenseits Der Unschuld
Droschke vor dem Portal hielt erschien Jenson auf der Steintreppe. Sofie reichte Rachelle das Baby und stieg aus. Als Jenson sie erkannte, entfuhr ihm ein Laut des Erstaunens.
Sofie lächelte. »Jenson! Ich bin wieder daheim!«
Er eilte ihr entgegen, vergaß seine versteinerte Butlermiene und strahlte übers ganze Gesicht. »Miss Sofie! Wie gut, dass Sie wieder da sind! Es wurde auch höchste Zeit, mit Verlaub gesagt! «
Rachelle stieg mit Edana auf dem Arm aus der Kutsche. Sofie nahm die Freundin am Ellbogen und schob sie vor sich her die Treppe hinauf. Dabei schossen ihr mit einem mal Suzannes warnende Worte durch den Kopf. Du darfst das Kind nicht nach Hause bringen. Ein kalter Schauer durchrieselte sie.
Sofie festigte ihren Griff an Rachelles Arm. »Jenson, das ist meine liebe Freundin und Gesellschafterin Rachelle du Fleury. Und dies ist meine Tochter Edana Jacqueline O'Neil.«
Jenson fiel der Unterkiefer herab.
In der Empfangshalle rannte das Hauspersonal zusammen, um Sofie zu begrüßen, die versuchte, ihre Beklommenheit abzuschütteln. Sie umarmte Mrs. Murdock, deren Augen in Tränen schwammen. »Das ist meine Freundin Rachelle«, stellte Sofie vor und schob Rachelle mit dem Baby nach vorne. »Und das ist meine Tochter Edana.«
Mrs. Murdock bekam große Augen und erbleichte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich von ihrem Schreck erholt hatte, während Jenson sich bereits wieder gefangen und seine förmliche Maske aufgesetzt hatte. »Wie süß sie ist, Miss Sofie.« Mrs. Murdock drückte Sofies Hand. »Du meine Güte ... ich hatte ja keine Ahnung!«
Sofie lächelte verlegen.
Mrs. Murdock fasste sich rasch und wurde wieder zur umsichtigen Haushälterin. »Ich lasse gleich Ihr Zimmer herrichten. Miss Rachelle und das Baby bringen wir im angrenzenden Zimmer unter. «
Sofie war gerührt. »Vielen Dank.« Sie räusperte sich. »Aber Edana schläft bei mir, Mrs. Murdock.«
Die Haushälterin nickte und schickte die Hausmädchen los.
»Ist denn niemand zu Hause?« fragte Sofie.
»Mr. Ralston hat eine geschäftliche Besprechung in der Stadt, und Mrs. Ralston ist mit Freundinnen zum Lunch ausgegangen. Miss Lisa ist im Garten.«
Sofie wandte sich an Rachelle. »Komm. Lisa weiß Bescheid. Sie wird entzückt sein, ihre kleine Nichte kennenzulernen.«
Die beiden jungen Frauen eilten durchs Haus. An der Schwelle zur Terrasse verharrte Sofie verblüfft, denn sie hatte erwartet, Lisa alleine vorzufinden.
Doch Lisa lag in den Armen eines jungen Mannes, der sie küsste.
Sofies Hände flogen an den Busen. Das war kein keuscher Kuss. Lisa lag in den Armen eines hochgewachsenen, breitschultrigen Mannes, und beide küssten sich leidenschaftlich. Sofie räusperte sich. Das Pärchen fuhr erschrocken auseinander. Lisas Gesicht war gerötet. Als sie Sofie in der Verandatür stehen sah, entfuhr ihr ein spitzer Schrei. Sie raffte die Röcke und lief der Schwester entgegen.
Lisa hatte nie hübscher ausgesehen in ihrem grün gestreiften, duftigen Kleid. Die Schwestern umarmten einander stürmisch.
Sofie wandte sich an den jungen Herrn, der herangetreten war. Lisa hakte sich bei ihm unter. Er sah blendend aus, hatte graue Augen und dunkelblondes Haar.
»Das ist mein Verlobter«, verkündete Lisa stolz und heiter. Neben ihm wirkte sie noch zierlicher, beinahe zerbrechlich. »Der Marquis von Connaught, Julian St. Clare.«
»Oh, Lisa, ich hatte ja keine Ahnung! « rief Sofie beglückt. Und zum Marquis gewandt setzte sie hinzu: »Ich bin entzückt, Sie kennenzulernen. Ich bin Lisas Stiefschwester, Sofie O'Neil.«
Der Marquis verneigte sich, ohne sich ein Lächeln abringen zu können. Er antwortete kühl, aber mit ausgesuchter Höflichkeit. »Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Madam. Meine Verlobte hat mir viel von Ihnen erzählt.«
Sofies Lächeln gefror, sie warf Lisa einen kurzen Blick zu der die Steifheit ihres Verlobten indes nicht aufgefallen war. Der Marquis schien Sofies unerwartetes Auftauchen als ausgesprochen störend zu empfinden. Doch dann meldete Edana sich mit einem lauten Glucksen.
Lisa zuckte zusammen. Sofie straffte die Schultern. Es fiel ihr nicht schwer, ihr Baby Jenson, Mrs. Murdock und Lisa vorzustellen, aber Edana einem Fremden zu zeigen, war eine andere Sache. Sofie hatte zwar über ein Jahr in Paris auf dem Montmartre gelebt und sich über gesellschaftliche Konventionen hinweggesetzt, wusste aber sehr wohl, dass die New Yorker Gesellschaft über sie und ihr Kind die Nase rümpfen
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