Jenseits Der Unschuld
langer Zeit verlernt zu lächeln.
Im Übrigen gab es keinen Grund zu lächeln, nicht für den achtunddreißigjährigen Mann am Rande des Irrsinns, dessen einzige Glücksmomente sich auf schmerzliche Erinnerungen bezogen.
Wie sehr er seine Sofie vermisste. An Tagen wie diesem konnte er es kaum ertragen. Mittlerweile war er sich nicht mehr so sicher, ob es sinnvoll war, nach New York zurückzukehren, wobei seine Zweifel nichts mit der Angst zu tun hatten, von den Behörden aufgespürt zu werden. Jake O'Neil war tot und begraben, das Opfer einer Schießerei mi der Polizei, in deren Verlauf ein Lagerschuppen in Flammen aufgegangen war. Der Mann, der mit ihm die Flucht gewagt hatte, war erschossen worden, und Jake erinnerte sich nur vage daran, wie er die Blechschilder mit den Namen vertauscht hatte, während die Feuerwand sich bedrohlich näherte. An die Londoner Zeitungsberichte erinnerte er sich hingegen sehr genau. Er war sogar zu seiner eigenen, trostlosen Beerdigung gegangen, an der kein Mensch teilnahm außer dem Pfarrer. Er hatte dem jungen Mann, der an seiner Stelle sterben musste, die letzte Ehre erwiesen und sich zugleich grimmig beglückwünscht, am Leben zu sein. Jake O'Neil gab es nicht mehr.
Er war nun Jake Ryan, ein international angesehener Geschäftsmann. Seine erste Million hatte er im Bauwesen in New York City gemacht, seine zweite in Irland, ebenfalls im Bauwesen und bei anderen, gefährlicheren Unternehmungen. Welche Ironie, dass er Irland einen Teil seines geschäftlichen Erfolgs verdankte. Als halbwüchsiger, verwaister und obdachloser junge war er aus seiner Heimat geflohen, war vor der englischen Polizei und dem Verbrechen davongelaufen, das er in rasender Wut und Rachedurst verübt hatte. Damals hatte er nicht vorgehabt, je wieder einen Fuß auf irischen Boden zu setzen.
Jake war krank vor Heimweh nach der Grünen Insel gewesen. Damals hatte er nicht wissen können, dass er eines Tages zurückkehren würde, trauriger und verbitterter denn je, gezwungen, seine Tochter und seine Ehefrau in Amerika zurückzulassen.
Sofie. Er liebte sein Tochter abgöttisch. Es fiel ihm unendlich schwer, ihr so nah zu sein, sie zu sehen, ohne auf sie zugehen, mit ihr reden, sie in die Anne schließen zu dürfen.
Jakes Wangenmuskeln spannten sich. Er stand auf und trat an den Schreibtisch, auf dem ein leerer Silberrahmen von Tiffany stand. Eines Tages würde er an eine Fotografie von Sofie gelangen; dafür war der Rahmen gedacht.
Jake rieb sich die Stirn, dann hob er den Telefonhörer ab. Die Vermittlung meldete sich, und Jake nannte eine Nummer. Es dauerte nicht lange, und Lou Annes kindliche Stimme hauchte in den Hörer. Beinahe hätte er wieder aufgelegt. Aber er wollte nicht noch eine einsame Nacht verbringen.
Lou Anne freute sich, ihn zu sehen. Jake legte auf und starrte vor sich hin. Wenn er sich nur zu erkennen geben dürfte - nur seiner Tochter.
Ein unerfüllbarer Wunsch. Sofie würde ihren Vater nicht sehen wollen, einen Mann, der wegen Mordes und Landesverrat zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt worden war. Würde er sich ihr nähern, würde sie schreiend in die entgegengesetzte Richtung laufen. Vielleicht würde sie sogar einen bleibenden Schaden davontragen, wenn sie erfuhr, dass ihr Vater lebte. Suzanne war ihm gleichgültig, genauso gleichgültig, wie ihm seine eigene Person war.
Aber Sofie wollte er um keinen Preis verletzen. Sie
hätte es nicht besser treffen können. Sie war wohlhabend und von der Gesellschaft anerkannt. Sie brauchte weiß Gott keinen Ausgestoßenen in ihrem Leben.
Sofie ging Schritt um Schritt zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand ihres Ateliers stieß. Quer durch den schwach erhellten Raum blickte Edward ihr entgegen. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen, sein Blick war eindringlich, anzüglich, verführerisch - sündig - von der Leinwand herunter.
Sofie schlang die Arme um sich. Durch die zwei hohen Fenster ihres Studios sah sie, wie der Himmel sich grau färbte; allmählich vertrieb die Morgendämmerung das Dunkel. Sie war die ganze Nacht auf gewesen und hatte wie eine Besessene gemalt. Sie hatte skizziert und gemalt, hatte weder gegessen noch getrunken, noch eine Schlafpause eingelegt. Nun blickte er sie über die Entfernung des Ateliers an, kraftvoll, sprühend, lebendig. Sofie sank zu Boden.
Sie war ausgelaugt, hob die zitternden Hände an den Mund, wusste, dass dieses Bild ihre beste Arbeit war. Edwards hochgewachsene Gestalt schlenderte lässig
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