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Jenseits Der Unschuld

Jenseits Der Unschuld

Titel: Jenseits Der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
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unverbindlich. Er setzte ein künstliches Lächeln auf, machte kehrt und entfernte sich.
    Edward sah ihm nach und fragte sich verwirrt, wer, zum Teufel, er war und was er von ihm wollte - und woher, zum Teufel, er ihn kannte.
    Jake O'Neil schlenderte von einem Raum in den nächsten und wieder in den nächsten. Er durchwanderte das gesamte prachtvoll eingerichtete neue Herrenhaus. Seine Schritte hallten auf den Marmorböden und von den Wänden der hohen Eingangshalle wider. Nachdem er das Erdgeschoss besichtigt hatte, erkundete er das erste Stockwerk, das zweite und schließlich das dritte. Oben in den Unterkünften der Dienstboten blickte er aus einem Fenster. Weit unter ihm wand der Hudson River sich wie eine glänzende, schwarze Schlange in der hellen Vollmondnacht.
    Der einzige Raum, den er nicht betrat, war das Kinderzimmer.
    Während seiner Inspektionsrunde registrierte er jedes einzelne Möbelstück, jeden Teppich, jedes Gemälde an den Wänden. Er prägte sich die Farben und Muster der Tapeten ein, die Bezugsstoffe der Polstersessel und Sofas, die Bettüberwürfe, die schweren Samtdraperien, Wandlampen und Kronleuchter an den stuckverzierten Decken.
    Falls ihm gefiel, was er sah, war es seinem versteinerten Gesicht nicht zu entnehmen, wenn ihn jemand begleitet hätte, doch er war allein.
    Jake stieg gemessenen Schrittes die Treppe wieder nach unten. Noch immer zeigte sich keinerlei Regung in dem harten, wettergegerbten Gesicht. Und wieder hallten seine Schritte durch das Foyer. Er betrat die Bibliothek, ein dunkel getäfelter Raum mit bis zur Decke reichenden Bücherschränken an zwei Wänden. Das glänzende Parkett bedeckte ein in warmen Rottönen gehaltener Orientteppich. Die Einfassung des Kamins, in dem kein Feuer brannte, bestand aus grünem Marmor. Das einzige Licht im Raum spendete eine Tischlampe auf dem großen Mahagonischreibtisch, ansonsten lag der Raum im Halbdunkel.
    Jake trat an die Anrichte und schenkte sich ein Glas des besten schottischen Whiskys ein, den es für Geld zu kaufen gab, und stürzte ihn in einem Zug hinunter. Er goss nach, begab sich mit dem Glas zu einem grünen Ledersofa und setzte sich. Der Whisky, der ihm warm und samtig die Kehle hinunterlief und sein Inneres erwärmte, vermochte seinen Kummer nicht zu erleichtern, der ihm die Brust zuschnürte.
    Er schloss die Augen und streckte die langen, sehnigen Beine von sich; seine Gesichtszüge waren von einem Schmerz verhärtet, der nicht körperlich war.
    Jake gab einen gequälten Laut von sich.
    Er war allein in seinem riesigen Haus, allein, ohne einen einzigen Dienstboten - aber er wollte es nicht anders. Er war so lange allein gewesen; Einsamkeit war die einzige Daseinsform, an die er sich erinnerte.
    Er war zurückgekommen, sein Haus war endlich fertig, und es war ein ganzes Heer von Dienstboten nötig, um den großen Haushalt zu führen. Vielleicht würde er seinen Sekretär morgen damit beauftragen, geeignetes Personal anzustellen.
    Bedienstete würden das Haus beleben.
    Dann hörte er es. Fröhliches Kinderlachen. Draußen in der Halle.
    Jake wagte nicht, die Augen zu öffnen, horchte gespannt auf den Klang der Stimme, die er so liebte - eine Stimme, die er seit vierzehn Jahren nicht gehört hatte, eine Stimme, die er nie wieder hören durfte. Denn es war nur eine Sinnestäuschung in der Stille dieses Mausoleums, das er sein Heim nannte. Er hatte sich das Kinderlachen nur eingebildet in seinem Schmerz. Es war nicht zum ersten Mal, dass er horchte und mit ihrem süßen Lachen belohnt wurde, und es würde nicht das letztemal sein. Jake ließ diese Fantasien zu - sie waren alles, was ihm geblieben war.
    Einen Moment glaubte er, endgültig dem Wahnsinn zu verfallen.
    Auch diese grauenhafte Vorstellung war ihm nicht neu er kannte sie aus den Jahren, in denen er im Gefängnis gesessen hatte.
    Selbst wenn er dem Wahnsinn verfiel, würde er sich nicht von seinen Erinnerungen trennen. Niemals. Denn genau diese Erinnerungen hatten ihn am Leben erhalten während der zwei Jahre seiner Gefangenschaft, ehe ihm die Flucht gelungen war.
    Mit geschlossenen Augen horchte er auf das Kinderlachen und hörte es wieder. Er hatte Mühe zu atmen. Er hörte ihre kleinen Schritte, wie sie ins Zimmer stürmte. Ihre blonden Zöpfe flogen, ihre Wangen waren rosig angehaucht.
    Wie hübsch, wie süß, wie bezaubernd sie war. »Papa, Papa!« jauchzte sie und sprang mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.
    Er hätte beinahe gelächelt - hätte er nicht vor

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