Jenseits Der Unschuld
Lebensinhalt zu machen, die dafür auf Ehe und Kinder verzichtete, musste größere Fähigkeiten besitzen, als handwerklich perfekte, in altmeisterlicher Manier ausgeführte Porträts zu malen. Dennoch war Edward beeindruckt von ihrer Originalität, ihrer Unabhängigkeit und der Widersprüchlichkeit ihres Wesens, Züge, die er eigentlich nur in ihr vermutete, ohne sie kennengelernt zu haben. Er spürte, dass sich hinter ihrer besonnenen Art, die sie nach außen präsentierte, eine völlig andere Sofie O'Neil verbarg.
Es stand außer Zweifel, dass Sofie wachgerüttelt werden musste. Aber durfte er sich als ihr Retter aufspielen?
Durfte er ihre behütete Welt auf den Kopf stellen? War er der Richtige, um sie vergessen zu lassen, dass sie sich zur Exzentrikerin und zum Krüppel gestempelt hatte? Durfte er ihr zeigen, was das Leben zu bieten hatte, durfte er ihre Leidenschaften wecken, ihren Wunsch, so zu leben, wie eine Frau leben sollte, ohne sie zu zerstören?
Edwards ursprüngliche Absichten hatten keine wie immer geartete Form von Liebe beinhaltet. Doch plötzlich war in ihm der verwirrende Wunsch aufgestiegen, sie zu küssen. Wenn er sie küssen und anschließend seiner Wege gehen könnte, wäre nichts daran auszusetzen. Ein paar leidenschaftliche Küsse waren genau das, was in Sofie O'Neils Leben fehlte. Genau das würde sie aufrütteln, würde den Wunsch in ihr wecken, das erfüllte Leben einer Frau zu führen.
Durfte er es wagen? Edward war ein Meister in der Kunst der Verführung. Bisher hatte er sich auf diese Spiele allerdings nur eingelassen, wenn sie für beide Beteiligten zu einem befriedigenden Ergebnis führten. Er wusste nicht, ob er das Maß an Selbstbeherrschung aufbringen würde, um die Regeln, die er sich bei Sofie auferlegen musste, einzuhalten.
Die Equipage vor ihm setzte sich in Bewegung. Edward legte den ersten Gang ein und fuhr am Hotel vor. Der livrierte Portier eilte die Treppe herunter und wies ihm einen Parkplatz zu. Edward stellte den Packard ab, stieg aus und sperrte die Tür ab. Sofie wollte ihm nicht aus dem Sinn; er freute sich auf die nächste Begegnung. Wenn er sich nicht genau kennen würde, könnte er beinahe meinen, er sei ein wenig in sie verliebt. Doch allein der Gedanke erschien ihm absurd.
Edward stieg die mit rotem Teppich belegten Stufen zum Savoy hinauf, und der Portier öffnete grüßend die Glastür. Edward nickte zerstreut. Wenn er dafür sorgen wollte, dass Sofie lernte, Freude am Lebe» zu haben, gab es eine Reihe von Zerstreuungen, die sie gemeinsam erleben konnten. Mit schnellen Schritten durchmaß er die nobel ausgestattete, marmorgeflieste Hotelhalle. Vielleicht sollte er mit einer Spazierfahrt und einem anschließenden Lunch im Delmonico beginnen.
Als er an die Rezeption trat, um seine Post abzuholen, fiel ihm ein hochgewachsener, sonnengebräunter Mann auf, der ihn zu mustern schien. Edward überzeugte sich mit einem prüfenden Blick, dass der Mann ihm unbekannt war.
Als er sich zum Gehen wandte und seine Post durchfächerte, wurde er angerempelt. Der Stapel Briefe flatterte zu Boden.
»Tut mir leid«, entschuldigte der Fremde sich mit heiserer, gedehnter Stimme. »Moment, ich helfe Ihnen.«
Edward blickte den hochgewachsenen Mann an, von dem er sich gerade beobachtet gefühlt hatte, der sich nun bückte und seine Briefumschläge einsammelte. Der Fremde, ebenso groß wie Edward und etwa fünfzehn Jahre älter als er, richtete sich wieder auf und händigte Edward die Post aus. Seine Lippen umspielte ein Lächeln, doch seine ungewöhnlich goldfarbenen Augen blieben ernst.
Edward stutzte. Er kannte diese Augen. Unvergessliche Augen. »Kennen wir uns?«
»Nicht, dass ich wüsste«, entgegnete der Fremde.
Edward war sich sicher, dass er die Augen dieses Mannes schon einmal gesehen hatte, dass er ihn irgendwoher kannte. Und er durchschaute einen Betrug, zumal dann, wenn er das Opfer war. »Vielen Dank, Sir«, sagte er lächelnd und fragte sich, ob der Fremde einen seiner Briefe entwendet hatte. Da er den Stapel nicht vollständig durchgefächert hatte, war er sich nicht sicher. Welches Interesse konnte dieser Mann an einem nicht für ihn bestimmten Brief haben? Edward erwartete ein Schreiben der Bergwerksgesellschaft DeBeers aus Südafrika - alles andere war unwichtig. Vielleicht war der Fremde - wie DeBeers - an seiner Mine interessiert.
»Hoffentlich habe ich nichts durcheinandergebracht«, meinte der Mann gedehnt; sein Blick war kühl, sein Tonfall
Weitere Kostenlose Bücher