Jenseits Der Unschuld
beschleunigte sich. »Auch wenn du nicht damit einverstanden bist, wie ich in der leidigen Geschichte zwischen Sofie und diesem Mann gehandelt habe, war es dennoch richtig. Komm bitte nicht auf die Idee, dich einzumischen oder Sofie irgendwelche Flause in den Kopf zu setzen! « Sie legte die Hände an die Hüften. »Hast du nicht die Gerüchte gehört? Er wird von der guten Gesellschaft nicht mehr empfangen wegen seiner ungebührlichen Lebensweise. Letzte Woche ist er doch tatsächlich auf einer Wohltätigkeitsgala mit einer geschminkten liederlichen Person aufgetaucht. Sie soll noch dazu halbnackt gewesen sein!«
Lisa straffte die Schultern. »Vielleicht ist auch er unglücklich.«
»Unsinn!« entgegnete Suzanne barsch. »Ich rate dir, dich um deine Angelegenheiten zu kümmern, Lisa«, fuhr sie kalt fort. »Sofie ist meine Tochter. Dieser Mann hat nichts in ihrem Leben zu suchen. Ich will ihn nie wieder mit ihr zusammen sehen.«
»Sie ist meine Schwester.«
»Deine Stiefschwester, weiter nichts.«
Lisa schnappte nach Luft. »Ich bleibe lieber hier«, sagte sie, und ihre Lippen bebten. »Ich kann den Opernbesuch nicht genießen, wenn Sofie sich allein zu Hause
grämt.« Daraufhin machte sie kehrt, raffte die Röcke und floh die Treppe hinauf.
Suzanne sah ihr erzürnt nach. Sie hatte keine Lust, zu Hause zu bleiben. Sie dachte an Benjamin, der seit Stunden mit einem Rechtsanwalt und zwei Herren der Bank eine Besprechung im Arbeitszimmer hatte. Wenn die drei den geschäftlichen Teil erledigt hatten, würden sie noch ein Glas Cognac trinken und dicke Zigarren rauchen.
Möglicherweise würden sie sich auch in Benjamins Club begeben. Ein paar Stunden später würde er zu ihr ins Bett schlüpfen zu einem kurzen, faden Liebesakt, den Suzanne nur ertrug, weil er ihr Gelegenheit bot von ihrem verstorbenen ersten Ehemann zu fantasieren.
Suzanne betrachtete ihr Spiegelbild und registrierte stolz, wie schön und begehrenswert sie aussah. Nein, sie hatte nicht die Absicht, zu Hause zu bleiben, allein und gelangweilt, um auf Benjamins Aufmerksamkeiten zu warten, Aufmerksamkeiten, an denen ihr nichts lag.
Da es verheirateten Damen gestattet war, ohne Begleitung die Oper zu besuchen, beschloss Suzanne, sich den Abend von Lisa nicht verderben zu lassen. Das Kind wurde in letzter Zeit zu aufrührerisch und trotzig. Suzanne nahm sich vor, mit Benjamin zu sprechen, um eine baldige Verheiratung seiner Tochter ins Auge zu fassen. Hatte sie nicht kürzlich gehört, ein englischer Marquis - verarmt und Junggeselle - sei in der Stadt, um Ausschau nach einer wohlhabenden Braut zu halten?
Suzanne gab Anweisung, die Kutsche vorfahren zu lassen, und dachte an Lisa, während sie wartete. Gedanken an Sofie und ihr Unglück verdrängte sie. Ihr Schmerz würde nach einiger Zeit erträglich werden, das wusste Suzanne aus eigener Erfahrung.
Suzanne amüsierte sich prächtig. Die Opernaufführung interessierte sie nicht sonderlich, aber sie genoss es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Die Herren in den umliegenden Logen warfen immer wieder heimliche Blicke zu ihr herüber, manche wagten es sogar, ihr zuzulächeln. Suzannes Ruf war völlig wiederhergestellt, und das bereits seit vielen Jahren. Nach dem Grauen, als lebender Skandal von der Gesellschaft verstoßen und geächtet zu sein, hatte sie nicht den Wunsch, je wieder eine solche Situation heraufzubeschwören. Sie ließ sich von Männern bewundern, aber nur aus der Ferne. Sie war Benjamin all die Jahre ihrer Ehe treu geblieben. Nach ihren Jugendsünden war sie klug genug, um zu wissen, dass Liebe und Lust wertlos waren im Vergleich zu Ansehen und Reichtum.
Dennoch genoss sie die Bewunderung der Herren, sehnte sich geradezu danach, vielleicht, weil Benjamin sie so selten als Frau wahrnahm. Suzanne gab vor, zwei besonders kecke Bewunderer nicht zu bemerken, als ihr Blick auf einen Herrn fiel, der in Begleitung einer blonden Dame eine Loge verließ. Suzannes Herzschlag setzte aus.
Als ihr Herz wieder zu schlagen begann, diesmal rasch und hämmernd, war ihr Mund trocken, und sie atmete flach.
Sie starrte auf den Rücken eines hochgewachsenen, breitschultrigen Mannes, dessen dichtes, von der Sonne gebleichtes Haar den Kragen seines Abendanzugs streifte. Suzanne vermochte den Blick nicht von ihm abzuwenden.
Nein. Sie war verrückt! Das war nicht Jake!
Jake war tot. Er starb 1890 in einem schrecklichen Feuerbrunst nach seiner Flucht aus dem Gefängnis. Er war tot und in einem
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