Jenseits Der Unschuld
Massengrab auf einem Londoner Friedhof verscharrt worden.
Suzanne versuchte, sich zu beruhigen. Jake war tot. Doch der Anblick eines Mannes, der ihm so ähnlich sah -
selbst von der Ferne und nur sein Rücken -, durchbohrte ihr Herz wie eine Pfeilspitze. Würden Trauer und Schmerz nie versiegen?
Suzanne stand jäh auf, wie unter Zwang. Wollte sie tatsächlich einem Fremden nachlaufen, um sein Gesicht zu sehen? Und was dann?
Suzanne beugte sich vor und flüsterte einer Dame ihres Bekanntenkreises ins Ohr, sie sei in wenigen Minuten zurück, dann huschte sie aus der Loge.
Jake beschleunigte seine Schritte. Es war ein Fehler gewesen. Ein großer Fehler.
Aber er war es leid, sich ständig in seiner Villa am Riverside Drive zu verkriechen. Er arbeitete im Haus, schlief dort, nahm seine Mahlzeiten zu sich und ließ seine Geliebte kommen. Lou Anne hatte ihren Unmut laut zum Ausdruck gebracht. Sie wollte ausgehen, sich amüsieren. Und Jake konnte es ihr nicht verdenken. Sie war jung, und das Bett war kein ausreichender Ersatz für andere Vergnügungen.
Auch nicht für ihn.
»Wovor hast du Angst?« hatte sie gefragt.
Lou Anne war nicht schlau genug, um die Wahrheit zu erahnen. Aber mit ihrer unschuldigen Frage hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Jake konnte ihr nicht sagen, dass er Angst hatte, jemand könne ihn wie schon einmal durch puren Zufall erkennen.
Er konnte ihr nicht sagen, dass er panische Angst davor hatte, wieder ins Gefängnis gesteckt zu werden.
Er würde lieber sterben.
Also war er ihr die Antwort schuldig geblieben und hatte zugestimmt, sie in die Oper auszuführen.
Und ausgerechnet hier, ausgerechnet heute musste er seiner Ehefrau begegnen. Zum Glück hatte sie ihn nicht gesehen.
Er war weder auf eine Begegnung mit ihr vorbereitet noch auf den Schock, dem eine Flut widersprüchlicher, mächtiger Empfindungen folgte, nicht zuletzt Wut und Hass.
Suzanne eilte durch das hohe Säulenfoyer, in dem sich viele Opernbesucher versammelt hatten, Champagner tranken und angeregt miteinander plauderten. Ihr Blick flog hastig durch die Menge. Sie erstarrte.
Der Mann, dem sie gefolgt war, stand in einiger Entfernung neben seiner blonden Begleiterin und hielt Suzanne noch immer den Rücken zugewandt. Suzanne hätte schwören können, dass es Jake war - oder sein Geist.
Das Paar schien eine Auseinandersetzung zu haben. Suzanne fixierte gebannt den Rücken des Mannes, der sich nun vorbeugte und seiner Begleiterin etwas ins Ohr flüsterte.
Seine Haltung war ihr so vertraut. Suzanne meinte beinahe, seine heisere, verführerische Stimme zu hören. Eine Hitzewelle durchrieselte sie, schwindelerregender als alles, was sie seit Jahren empfunden hatte. jede Nervenfaser in ihr war zum Zerreißen gespannt.
Er konnte nicht Jake sein, aber er war ihm so ähnlich. Suzanne begehrte ihn. Nein, sie würde nie wagen, ihren guten Ruf aufs Spiel zu setzen, den sie so viele Jahre eifrig gehütet hatte.
Die Frau entfernte sich und strebte sichtlich verärgert den Logen zu. Als sie an Suzanne vorüberging, stellte diese nicht nur fest, dass sie sehr schön, sondern auch sehr jung war, nicht älter als neunzehn. Suzannes Blick flog zu dem Mann zurück, der sich nun zögernd nach seiner entschwindenden Begleiterin umdrehte. Ihre Blicke trafen sich.
Suzanne entfuhr ein spitzer Schrei vor Schreck und Betroffenheit. Es dauerte einige Sekunden, bis sie begriff, dass der Mann sich abgewandt hatte und durch die hohen Portale ins Freie trat und in der Nacht verschwand.
Nun kam wieder Leben in sie. Das war Jake! Jake lebte! Ohne zu wissen, was sie tat, lief Suzanne ihm nach, drängte sich rücksichtslos durch die Menge, achtete nicht auf die erstaunten Blicke, die ihr folgten.
Suzanne hastete durch das Portal. Auf dem Bürgersteig blieb sie atemlos im Schein einer Straßenlaterne stehen.
Die Luft war mild und lau an diesem Spätsommerabend. Doch Suzanne bemerkte nichts davon. Wo war Jake?
Hatte sie ihn abermals verloren? Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Dann sah sie ihn an der nächsten Querstraße. Er ging in weitausholenden Schritten in Richtung 6. Avenue, halb verborgen im Schatten der Häuser. »Jake!« schrie Suzanne gellend, raffte die Röcke und rannte hinter ihm her.
Der Mann verlangsamte seine Schritte und blieb schließlich stehen. Zögernd wandte er sich um. Seine Lippen bildeten einen harten, schmalen Strich. Suzanne kam keuchend vor ihm zum Stehen. Er ist nicht tot. Jake lebt.
Ohne auf die Passanten zu
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