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Jenseits der Untiefen

Jenseits der Untiefen

Titel: Jenseits der Untiefen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Favel Parrett
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Harry?«
    Stille.
    »Harry?«
    »Ti-ti-ger … Win-d-d-jacke.«
    Miles schluckte. Er hatte Harry gesagt, er solle seinen Wollpullover anziehen. Er hatte extra einen für ihn rausgelegt. Er hätte es kontrollieren sollen. Er hätte sichergehen müssen.
    »D-d-dad … k-k-komm«, Harry brachte kaum noch die Worte heraus.
    Nein, Kumpel, dachte Miles. Niemand kommt.
    Miles hätte Harry gern im Blick gehabt, aber er wusste, dass er auf seinem Rücken besser aufgehoben war. Um seinen Rücken geschlungen. So war wenigstens Harrys Kopf vor dem Wind geschützt. Er überlegte, seinen Pullover auszuziehen und ihn Harry überzuziehen, aber das wäre schwierig und würde außerdem nicht helfen. Die Wärme, die von der Wolle gespeichert wurde, verlor sich, sobald der Pullover sich von der Haut löste.
    »Uns wird nichts passieren«, sagte er und schloss die Augen.
    Er wusste nicht, was er machen sollte.
    Sein Inneres war schwarz und leer. Er versuchte sich in diesem Dunkel ein Feuer vorzustellen, aber am Anfang sah er nur eine einzige blaue Flamme, die zu klein war, um etwas zu spüren. Dann strengte er seinen Willen an und spürte das erste Flackern von Wärme, während das Feuer wuchs. Schließlich flammte es auf und wurde zu einem Feuerball, orange, rot und gefräßig. Es verschlang seinen Magen, stieg in seine Lungen, seinen Rücken hoch. Drang ins Herz.
    Durch seine Haut teilte er das Feuer mit Harry.
     
    Die Flammen fauchten und zischten, hungerten nach frischem Holz. Miles zog seinen Schlafanzug an, und Mum kuschelte ihn auf der Couch in eine Decke ein. Sie tat so, als sei sie wütend auf ihn, weil er zu nah an den Fluss gegangen war, aber er wusste, sie war nicht wirklich wütend. Er hatte nicht vorgehabt, hineinzufallen. Er war einfach nur zu nah an den Rand geraten und ausgerutscht, und bevor er wusste, wie ihm geschah, hatte die Strömung ihn ergriffen. Sie hatte ihn heruntergezogen.
    »Ein Glück, dass dein Bruder da war«, sagte Mum.
    Miles sah zu Joe auf. Joe hatte ihn herausgefischt und nach Hause gebracht. Er hatte ihn gerettet. Joe brachte ihm einen heißen Kakao, und Miles ließ sich in die Couch zurücksinken.
    »Ist dir warm genug, mein Schatz?«, fragte Mum.
    »Ja«, sagte er. Ihm war noch nie so warm gewesen wie jetzt.
    »Schlaf nicht ein«, hörte er Mum sagen, leise und wie von fern.
    »Schlaf nicht ein.«
    Aber seine Augen wurden schwer. Er sank tiefer, hinein in die Wärme, ins Licht.
    »Wo ist Harry?« Das war wieder Mum, diesmal laut. »Wo ist mein Baby?«
    Harry war eigentlich kein Baby mehr, er war dreieinhalb, aber Mum nannte ihn immer ihr Baby. Und alle fanden, dass Harry so niedlich aussah mit seinem lockigen blonden Haar und den blauen Augen, aber meistens stand er im Weg. Immerzu lief er hinter Miles her und fragte: »Was machst du da, Miles? Was machst du?«
    »Miles?«
    Das war eine andere Stimme. Eine leise Stimme.
    »Ich habe keine Angst mehr.«
    Es war Harry. Miles konnte ihn jetzt sehen. Er stand vor dem Feuer. Er brachte sein Gesicht so nah an das von Miles, dass ihre Stirnen sich berührten.
    Harrys große blauen Augen verschwammen.
    »Ich habe keine Angst mehr vor dem Wasser«, sagte er. »Ich habe keine Angst vor dem Wasser!«
    Durch einen Nebel kehrte Miles zurück. Wind schlug gegen seine Haut.
    Kaltes Wasser klatschte ihm ins Gesicht, zwang ihn, die Augen zu öffnen.
    Er fuhr herum, rief nach seinem Bruder. Aber Harry war nicht mehr da.
     
    Harrys Füße schienen kaum den Boden zu berühren, während er Jake hinterherlief, so leicht fühlte er sich. Er rannte zwischen den Bäumen hindurch, streckte sich und konnte fast Jakes rotes Fell berühren. George war ihnen weit voraus. George winkte von der Kuppe eines Hügels.
    Und als Harry dort ankam, konnte er alles sehen.
    Das Land, wie es lange Zeit gewesen war – unberührt. Dunkelgrüne Waldstreifen zogen sich über Hügel und Berge und erstreckten sich in die Täler hinunter. Bäume, so weit er sehen konnte, bis zu den schneebedeckten Gipfeln, die den Himmel erhellten. Und Wasser gab es auch. Löcher und Flüsse voller Wasser. Große stille Seen voller Wasser. Und auch den Ozean konnte er sehen. Hellblau und dunkelblau. Stellen, an denen die Oberfläche weiß und golden hochkochte.
    Immerfort, so weit sein Blick reichte. Die ganze Welt.
    Und er dachte, ich bin frei – fliege wie ein Vogel. Ich bin frei.

M iles war umgeben vom orangefarbenen Licht, das vor der Dunkelheit kam. Die Sonne glühte auf, bevor sie über den Rand der

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