Jenseits des Bösen
jetzt das andere.
»Das verstehe ich nicht«, sagte sie zu Raul.
Da er nicht einmal die Frage verstand, konnte er nicht antworten, daher zuckte er nur die Achseln.
»Vergiß es«, sagte sie und zog sich an.
Erst dann stellte sie die Frage, was mit dem Nuncio passiert war.
»Habe ich alles bekommen?« sagte sie.
»Nein. Der Todesjunge hat es bekommen.«
»Tommy-Ray? Heiliger Himmel. Dann hat der Jaff jetzt
einen Sohn und einen halben.«
»Aber du bist auch berührt worden«, sagte Raul. »Und ich.
Ich bekam ihn in die Hand. Er stieg bis zum Ellenbogen.«
»Also heißt es jetzt, wir gegen sie.«
Raul schüttelte den Kopf. »Ich kann dir nicht von Nutzen sein«, sagte er.
»Du kannst und du mußt«, sagte sie. »Wir müssen
Antworten auf so viele Fragen finden. Ich kann es nicht alleine.
Du mußt mit mir kommen.«
Sein Widerwille war deutlich, er mußte ihn nicht in Worte kleiden.
»Ich weiß, du hast Angst. Aber bitte, Raul. Du hast mich von 444
den Toten zurückgeholt...«
»Ich nicht.«
»Du hast dazu beigetragen. Du möchtest doch nicht, daß es vergebens war, oder?«
Sie konnte etwas von Kissoons Beschwörungen in ihrer
Stimme hören, was ihr ganz und gar nicht gefiel. Aber sie hatte in ihrem ganzen Leben noch keine steilere Lernkurve erlebt als in der Zeit, die sie bei Kissoon gewesen war. Er hatte seine Spuren hinterlassen, ohne sie auch nur mit einem Finger zu berühren. Doch wenn man sie gefragt hätte, ob er ein Lügner oder Prophet war, ein Erlöser oder Wahnsinniger, hätte sie es nicht sagen können. Vielleicht war diese Doppeldeutigkeit der steilste Teil der Kurve, aber sie konnte nicht sagen, welche Lektion sie daraus gelernt hatte.
Sie dachte wieder an Raul und sein Zögern. Sie hatte keine Zeit für Diskussionen. »Du mußt einfach mitkommen«, sagte sie. »Es gibt keine andere Möglichkeit.«
»Aber die Mission...«
»... steht leer, Raul. Ihr einziger Schatz war der Nuncio, und der ist fort.«
»Sie war voller Erinnerungen«, sagte er leise, aber die gespannte Antwort verriet seine Bereitschaft.
»Es wird andere Erinnerungen geben. Bessere Zeiten, an die wir uns erinnern können«, sagte sie. »Und jetzt... wenn du dich von jemandem verabschieden mußt, dann tu es, denn wir machen uns gleich auf den Weg...«
Er nickte und wandte sich in Spanisch an die Frauen. Tesla verstand die Sprache ein klein wenig und bekam mit, daß er tatsächlich Abschied nahm. Sie ließ ihn in Ruhe und ging den Berg hinauf zum Auto.
Während sie dorthinging, schoß ihr die Lösung des Rätsels mit dem seitenverkehrten Körper durch den Kopf, ohne daß sie darüber nachgedacht hätte. In Kissoons Hütte hatte sie sich ihren Körper so vorgestellt, wie sie ihn am häufigsten sah: im 445
Spiegel. Wie oft in ihren dreißig Jahren hatte sie ihr Spiegelbild angesehen und ein Porträt gebastelt, bei dem rechts links war und umgekehrt?
Sie war buchstäblich als andere Frau aus der Schleife zurückgekehrt; eine Frau, die vorher nur als Bild in Glas existiert hatte. Jetzt war dieses Bild Fleisch und Blut und wandelte durch die Welt. Der Verstand hinter ihrem Gesicht blieb derselbe, hoffte sie, obschon vom Nuncio berührt und durch die Bekanntschaft mit Kissoon beeinflußt. Summa summarum keine vernachlässigbaren Einflüsse.
Und weil sich ein Ding zum anderen fügte, war sie eine völlig andere Frau. Und es gab keine bessere Zeit, das der Welt zu verkünden, als die Gegenwart.
Es gab vielleicht kein Morgen.
446
Sechster Teil
In Geheimnissen offenbart
I
Tommy-Ray fuhr seit seinem sechzehnten Lebensjahr Auto.
Räder waren für ihn immer Freiheit von Mama, dem Pastor, dem Grove und allem , wofür sie standen, gewesen. Jetzt fuhr er genau zu jenem Ort zurück, dem er noch vor ein paar Jahren gar nicht schnell genug hätte entkommen können, und hatte das Gaspedal auf jeder Meile des Wegs durchgetreten. Er wollte mit den Neuigkeiten, die sein Körper in sich trug, wieder durch den Grove gehen, wollte zu seinem Vater zurück, der ihm soviel beigebracht hatte. Bevor der Jaff gekommen war, waren das Beste in seinem Leben der Wind vor der Küste von
Topanga und eine Brandung von Westen gewesen; und er auf der Welle mit dem Wissen, daß alle Mädchen ihm vom Ufer aus zusahen. Er hatte immer gewußt, daß diese Zeiten des Hochgefühls nicht ewig währen konnten. Sommer für Sommer kamen neue Helden daher. Er war einer von ihnen gewesen und hatte Surfer verdrängt, die kaum mehr als ein paar Jahre älter
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