Jenseits des Bösen
konnte?
Der Neugier zu widerstehen, war noch nie ihre starke Seite gewesen. Je näher er kam, desto mehr wollte sie das Gewicht des Rauchs abschütteln und ihn direkt ansehen. Aber das war schwer. Ihr Körper war schwach, als wäre ihr Blut zu
Spülwasser geworden. Der Rauch war wie ein Hut aus Blei; die Krempe war zu tief in die Stirn gezogen. Je mehr sie drückte, desto schwerer wurde er.
Er will wirklich nicht, daß ich ihn sehe, dachte sie, und dieser Gedanke spornte ihren Ehrgeiz an, es doch zu tun. Sie drückte sich gegen die Wand. Er war jetzt nur noch zwei Meter von ihr entfernt. Sie konnte ihn riechen; sein Schweiß war bitter und abgestanden. Hoch, sagte sie zu sich. Hoch. Es ist nur Rauch. Er erweckt den Eindruck, als würdest du
zerquetscht werden, aber es ist nur Rauch.
»Entspanne dich«, murmelte er; wieder der Anästhesist.
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Statt dessen konzentrierte sie ihre letzten Kraftreserven darauf, den Kopf zu heben. Der Hut aus Blei drückte auf ihre Schläfen; ihr Schädel ächzte unter der Last der Krone. Aber sie bewegte den Kopf und zitterte, als sie sich gegen das Gewicht wehrte. Als sie einmal angefangen hatte, wurde die Bewegung leichter. Sie hob das Kinn einen Zentimeter, dann noch zwei, gleichzeitig schaute sie auf, bis sie ihn direkt ansehen konnte.
Stehend war er an jeder Stelle verkrümmt, nur an einer nicht; jedes Gelenk, jede Verbindung war ein wenig schief, Schulter und Hals, Hand und Arm; Schenkel und Becken, ein Zickzack mit einer einzigen kerzengeraden Linie, die von seinen Lenden abstand. Sie sah ihn angeekelt an.
»Scheiße, was soll das denn?« sagte sie.
»Ich kann nichts dafür«, sagte er. »Tut mir leid.«
»Ach ja?«
»Als ich sagte, daß ich deinen Körper will, habe ich es nicht so gemeint.«
»Wo habe ich das nur schon einmal gehört?«
»Glaub mir«, sagte er. »Es ist nur mein Fleisch, das auf deins reagiert. Automatisch. Fühle dich geschmeichelt.«
Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht gelacht. Wäre es ihr zum Beispiel möglich gewesen, die Tür aufzumachen und wegzugehen; aber so hatte sie sich außerhalb der Zeit verirrt, mit einer Bestie auf der Schwelle und dahinter nichts als Wüste. Jedesmal, wenn sie gedacht hatte, sie hätte kapiert, was hier los war, hatte sie es wieder verloren. Der Mann war eine Überraschung nach der anderen, und keine war erfreulich.
Er streckte die Hände nach ihr aus; seine Pupillen waren ge-weitet, das Weiß der Augen kaum noch zu sehen. Sie dachte an Raul; wieviel Schönheit sein Blick ausgedrückt hatte, trotz seines Mischlingsgesichts. Hier war keinerlei Schönheit; nichts auch nur vage Erkennbares. Keine Gier, keine Wut. Wenn er überhaupt Gefühle hatte, so waren sie gut verborgen.
»Ich kann es nicht«, sagte sie.
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»Du mußt. Gib mir deinen Körper. Ich muß den Körper haben, sonst gewinnen die Iad. Willst du das?«
»Nein!«
»Dann hör auf, Widerstand zu leisten. Deine Seele wird in Trinity sicher sein.«
»Wo?«
Nun war etwas ganz kurz in seinen Augen zu sehen; ein Fun-ken Wut - auf sich selbst, vermutete sie.
»Trinity?« sagte sie und dachte die Frage nur als Hinhaltetaktik, damit er sie nicht berührte und für sich beanspruchte. »Was ist Trinity?«
Als sie diese Frage stellte, passierten mehrere Dinge gleichzeitig, deren rasche Abfolge es ihr unmöglich machte, eins vom anderen zu trennen; aber allen gemeinsam war die Tatsache, daß seine Kontrolle über die Situation nachließ, als sie ihn nach Trinity fragte. Zuerst spürte sie, wie sich der Rauch über ihr auflöste, sein Gewicht drückte sie nicht mehr hinunter. Sie packte die Chance beim Schopf, so lange sie sich noch bot, und streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Sie wandte den Blick jedoch nicht von ihm ab, und im selben Augenblick, als der Zwang von ihr abfiel, sah sie, wie er sich verwandelte. Es war ein Sekundenbruchteil, mehr nicht, aber so nachdrücklich, daß sie ihn nie vergessen konnte. Sein ganzer Oberkörper schien von Blut bedeckt zu sein, einige Spritzer reichten bis zum Gesicht. Er wußte, daß sie es sah, denn er hob die Hände, um die Flecken zu bedecken, aber auch von Händen und Armen troff Blut. War es seines? Aber bevor sie eine Verletzung finden konnte, hatte er die Vision wieder unter Kontrolle; doch wie bei einem Jongleur, der zu viele Bälle in der Luft hat, war es so, daß er einen fing und dafür einen anderen fallenließ. Das Blut verschwand, und er stand wieder unbesudelt vor ihr, gab dafür aber ein
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