Jenseits des Bösen
Straßengraben. Er bremste, weil er sich umsehen wollte, nicht weil er damit rechnete, daß er hier Gespenster finden würde; doch noch während er die Unfallstelle betrachtete, hörte er das inzwischen bereits vertraute Heulen des Windes und sah zwei verstümmelte Gestalten, einen Mann und eine Frau, aus der Dunkelheit auftauchen. Sie hatten die Tricks ihres neuen Daseins noch nicht heraus. Der Wind, der durch sie wehte, oder aus ihnen heraus, drohte sie bei jedem unsicheren Schritt, den sie machten, auf die zerschmetterten Köpfe zu werfen. Doch obwohl sie noch nicht lange tot waren, erkannten sie in Tommy-Ray ihren neuen Herrn und kamen gehorsam. Er
lächelte, als er sie sah; ihre frischen Wunden - Glas in den Gesichtern, in den Augen - erregten ihn.
Kein Wort wurde gesprochen. Als sie näher kamen, schienen sie von ihren Kameraden im Tode hinter Tommy-Ray ein Zei-452
chen zu bekommen, worauf es ihnen möglich war, ihre Leiber völlig aufzulösen und sich dem Wind einzuverleiben.
Mit seiner angewachsenen Legion fuhr Tommy-Ray weiter.
Unterwegs kam es zu weiteren Begegnungen; sie wurden immer häufiger, je weiter er nach Norden kam, als würde sich die Nachricht seines Eintreffens durch die Erde ausbreiten, von einem Begrabenen zum nächsten, Friedhofsgeflüster, so daß den ganzen Weg entlang Staubphantome warteten. Aber es waren keineswegs alle gekommen, um sich zu der Gruppe zu
gesellen. Manche waren offensichtlich nur da, um die
vorbeiziehende Parade zu sehen. Ihre Gesichter drückten Angst aus, wenn sie Tommy-Ray ansahen. Er war jetzt zum
Schrecken der Geisterbahn geworden, sie waren die
verängstigten Besucher. Es schien, als gäbe es auch unter den Toten eine Hierarchie, und er war für viele eine zu
hochstehende Gesellschaft; seine Ambitionen waren zu groß, seine Gier zu verderbt. Sie zogen die stille Verwesung einem solchen Abenteuer vor.
Am frühen Morgen kam er zu der namenlosen Hinterwäldler-stadt, wo er die Brieftasche verloren hatte, aber das Tageslicht verriet nicht den Schwarm im Staubsturm, der ihm folgte. Alle, die hinsahen - und das waren in dem tosenden Wind die wenigsten -, erblickten eine schmutzige Wolke im Kielwasser des Autos; mehr nicht.
Er hatte hier etwas anderes zu tun, als verlorene Seelen einzusammeln - obwohl er nicht einen Augenblick daran zweifelte, daß das Leben in so einem verkommenen Ort schnell und gewaltsam vorbei sein konnte und viele Verstorbene nie in geweihter Erde zur Ruhe gebettet worden waren. Nein, er war hier, um an dem Taschendieb Rache zu nehmen. Und wenn nicht an ihm, so doch wenigstens an dem Schuppen, in dem es passiert war. Er fand ihn mühelos. Die Eingangstür war nicht verschlossen, wie er es zu dieser frühen Morgenstunde auch 453
nicht anders erwartet hatte. Und als er eintrat, stellte er fest, daß die Bar auch, nicht verlassen war. Die Trunkenbolde der vergangenen Nacht saßen immer noch in verschiedenen
Stadien des Zusammenbruchs in dem Lokal herum. Einer lag mit dem Gesicht nach unten inmitten einer Lache aus
Erbrochenem. Zwei weitere lagen auf Tischen. Hinter der Tür stand ein Mann, an den sich Tommy-Ray vage erinnerte; es war der Türsteher, der ihm zehn Dollar für die Vorstellung im Hinterzimmer abgeknöpft hatte. Ein Berg von einem Mann, dessen Gesicht so oft geprügelt worden zu sein schien, daß es aussah, als würde der Bluterguß nie heilen.
»Suchst du jemand?« wollte er wissen.
Tommy-Ray achtete nicht auf ihn und ging zur Tür in das Zimmer, wo er die Vorstellung von Frau und Hund miterlebt hatte. Sie war offen. Das Zimmer dahinter leer, die Darsteller ins Bett und in den Zwinger zurückgekehrt. Als er sich wieder zur Bar umdrehte, war der Barkeeper einen Meter von ihm entfernt.
»Verdammt, ich hab' dir eine Frage gestellt«, sagte er.
Tommy-Ray war ob der Blindheit des Mannes etwas ver-
stört. Sah er denn nicht die Tatsache, daß er es mit einem verwandelten Wesen zu tun hatte? War seine Wahrnehmung durch jahrelanges Trinken und Hundevorstellungen so getrübt worden, daß er den Todesjungen nicht erkannte, wenn er zu Besuch kam? Armer Narr.
»Geh mir aus dem Weg«, sagte Tommy-Ray.
Statt dessen packte der Mann Tommy-Ray am Hemd. »Du
warst schon mal hier«, sagte er.
»Klar.«
»Hast was dagelassen, was?«
Er zog Tommy-Ray näher, bis sie praktisch Nase an Nase waren. Er hatte den Atem eines Kranken.
»Ich an deiner Stelle würde loslassen«, warnte Tommy-Ray.
Das schien den Mann zu amüsieren. »Sieht so
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