Jenseits des Bösen
anderes Geheimnis preis, das seine Willenskraft im Zaum gehalten hatte.
Dieses war weitaus katastrophaler als die Blutflecke: seine 441
Schockwelle reichte bis zur Tür hinter ihr. Die Kraft war zu mächtig für die Lix, und Kissoon hatte offensichtlich entsetzli-che Angst davor. Er sah von ihr zur Tür selbst, ließ die Hände sinken und bekam eine völlig ausdruckslose Miene. Sie spürte, daß jedes Partikelchen seiner Energie nur für einen einzigen Zweck aufgewendet wurde, nämlich das zu stellen, was auf der Schwelle tobte. Auch das hatte seine Konsequenzen, denn seine Macht über sie - mit der er sie hierhergebracht und festgehalten hatte - verschwand vollkommen und endgültig. Sie spürte, wie die Wirklichkeit, die sie hinter sich gelassen hatte, sich ihrer bemächtigte und zog. Sie versuchte nicht einmal, Widerstand zu leisten. Es war ein ebenso unausweichlicher Sog wie die Schwerkraft. Als sie Kissoon zum letzten Mal sah, war er wieder blutbefleckt und stand immer noch mit
ausdrucksloser Miene vor der Tür. Dann ging die Tür auf.
Einen Augenblick war sie sicher, was immer gegen die Tür gepocht hatte, würde auf der Schwelle warten, um sie zu verschlingen und Kissoon ebenfalls. Sie glaubte, sie hätte sogar seine Helligkeit gesehen - so hell, so blendend hell -, die Kissoons Gesicht überflutete. Aber im letzten Augenblick behielt seine Willenskraft die Oberhand, und der Glanz verschwand im selben Augenblick wie die Welt, die sie zurückgelassen hatte, sie wieder für sich beanspruchte und durch die Tür riß.
Sie wurde den Weg zurückgezogen, den sie gekommen war, aber mit zehnfacher Geschwindigkeit, so daß sie nicht einmal die Gegebenheiten interpretieren konnte, an denen sie vorbeikam - den Stahlturm, die Stadt -, bis sie sie längst meilenweit hinter sich gelassen hatte.
Aber dieses Mal war sie nicht allein. Jemand war in ihrer Nähe und rief ihren Namen.
»Tesla? Tesla! Tesla!«
Sie kannte die Stimme. Es war die von Raul.
»Ich höre dich«, murmelte sie und merkte, daß hinter den 442
Schlieren der Geschwindigkeit vage eine andere, dunklere Realität sichtbar war. Lichtpünktchen waren darin -
möglicherweise Kerzenflammen - und Gesichter.
»Tesla!«
»Fast da«, keuchte sie. »Fast da. Fast da.«
Jetzt verblaßte die Wüste; die Dunkelheit gewann die Oberhand. Sie machte die Augen auf, damit sie Raul deutlicher sehen konnte. Er grinste breit, als er sich auf die Fersen niederließ, um sie zu begrüßen.
»Du bist zurückgekommen«, sagte er.
Die Wüste war verschwunden. Jetzt herrschte Nacht. Steine unter ihr, Sterne über ihr; und, vermutete sie, Kerzen, die von einem Kreis fassungsloser Frauen getragen wurden.
Unter ihr, zwischen Körper und Boden, waren die
Kleidungsstücke, aus denen sie geschlüpft war, als sie ihren Körper beschworen und in Kissoons Zeitschleife neu
erschaffen hatte. Sie hob die Hand, um Rauls Gesicht zu berühren, weil sie sich vergewissern wollte, ob sie tatsächlich wieder in der realen Welt war, und weil sie den Kontakt brauchte. Seine Wangen waren naß.
»Du hast hart gearbeitet«, sagte sie, weil sie es für Schweiß hielt. Dann wurde ihr ihr Fehler klar. Überhaupt kein Schweiß, sondern Tränen.
»Oh. Armer Raul«, sagte sie, richtete sich auf und umarmte ihn. »Bin ich völlig verschwunden?«
Er drückte sie an sich. »Zuerst wie Nebel«, sagte er. »Dann...
einfach weg.«
»Warum sind wir hier?« sagte sie. »Wir waren in der
Mission, als er auf mich geschossen hat.«
Als sie an den Schuß dachte, sah sie nach unten, wo die Kugel sie getroffen hatte. Keine Wunde; nicht einmal Blut.
»Der Nuncio«, sagte sie, »hat mich geheilt.«
Diese Tatsache entging den Frauen nicht. Als sie die unver-sehrte Haut sahen, murmelten sie Gebete und wichen zurück.
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»Nein...«, murmelte sie und sah immer noch an ihrem
Körper hinab. »Es war nicht der Nuncio. Dies ist der Körper, den ich mir vorgestellt habe.«
»Vorgestellt?« sagte Raul.
»Beschworen«, antwortete sie und nahm Rauls Verwirrung überhaupt nicht zur Kenntnis, weil sie selbst ein Rätsel lösen mußte. Ihre linke Brustwarze, doppelt so groß wie die andere, war jetzt auf der rechten Seite. Sie sah beide an und schüttelte den Kopf. So einen Fehler würde sie nie gemacht haben.
Irgendwie war ihr Körper von der Reise zur Schleife
seitenverkehrt zurückgekommen. Sie hob die Beine und
studierte sie. Mehrere Kratzer - Butchs Werk -, die ein Schienbein geziert hatten, schmückten
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