Jenseits des Bösen
Stück von Tommy-Ray entfernt blieb er stehen.
»Sprichst du?« fragte ihn der Todesjunge.
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Der Mann machte den ohnehin weit offenen Mund noch weiter auf und fing an, so gut er konnte, Antwort zu geben, indem er die Worte aus dem Hals emporschaffte. Als er ihm zusah, fühlte sich Tommy-Ray an einen Künstler erinnert, den er einmal in einer Spätvorstellung erlebt hatte, wo dieser einen lebenden Goldfisch verschluckt und wieder ausgewürgt hatte.
Obwohl das schon ein paar Jahre her war, hatte der Anblick Tommy-Rays Fantasie angeregt. Das Schauspiel eines Mannes, der imstande war, durch Übung sein System umzukehren, etwas auszuwürgen, das er im Hals gehabt hatte - sicher nicht im Magen, kein Fisch, und sei er noch so schuppig, konnte in Säure überleben -, hatte das Unbehagen wettgemacht, das er beim Zusehen empfunden hatte. Und jetzt lieferte ihm der Fick-Mann eine ähnliche Vorstellung; nur würgte er Worte statt eines Fischs hoch. Schließlich kamen sie heraus, aber trocken wie seine Innereien.
»Ja«, sagte er. »Ich spreche.«
»Weißt du, wer ich bin?« fragte Tommy-Ray.
Der Mann gab ein Stöhnen von sich.
»Ja oder nein?«
»Nein.«
»Ich bin der Todesjunge, und du bist der Fick-Mann. Wie ist das? Sind wir nicht ein tolles Paar?«
»Du bist für uns hier«, sagte der tote Mann.
»Was soll das heißen?
»Wir sind nicht begraben. Nicht gesegnet.«
»Bei mir müßt ihr keine Hilfe suchen«, sagte Tommy-Ray.
»Ich begrabe keinen. Ich bin hierhergekommen, weil das von nun an meine Plätze sind. Ich werde König der Toten sein.«
»Ja?«
»Verlaß dich drauf.«
Eine weitere verlorene Seele - eine Frau mit breiten Hüften -
war näher gekommen und erbrach ein paar Worte.
»Du...«, sagte sie, »... leuchtest.«
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»Ja?« sagte Tommy-Ray. »Das überrascht mich nicht. Du bist auch hell. Echt hell.«
»Wir gehören zusammen«, sagte die Frau.
»Wir alle«, sagte ein dritter Leichnam.
»Allmählich versteht ihr.«
»Erlöse uns«, sagte die Frau.
»Ich habe dem Fick-Mann schon gesagt«, erklärte Tommy-Ray, »ich begrabe niemanden.«
»Wir folgen dir«, sagte die Frau.
»Folgen?« antwortete Tommy-Ray, dem ein Schauer ange-
sichts der Vorstellung, mit dieser Versammlung in den Grove zurückzukehren, den Rücken hinablief. Vielleicht konnte er unterwegs noch andere Orte besuchen und dabei die Zahl seiner Gefolgschaft vergrößern.
»Die Vorstellung gefällt mir«, sagte er. »Aber wie?«
»Du führst. Wir folgen«, lautete die Antwort.
Tommy-Ray stand auf. »Warum nicht?« sagte er und ging zum Auto zurück. Noch im Gehen dachte er: Das ist mein Ende...
Aber es war ihm einerlei.
Als er hinter dem Lenkrad saß, sah er zum Friedhof zurück.
Wind wehte plötzlich von irgendwoher, und er sah, wie sich die Gesellschaft, die er sich erkoren hatte, in diesem Wind auflöste; ihre Körper zerstoben, als wären sie aus Sand, und wurden verweht. Teilchen ihres Staubs wehten ihm ins Gesicht.
Er blinzelte, wollte den Blick aber nicht von dem Schauspiel abwenden. Ihre Leiber verschwanden zwar, aber ihr Heulen konnte er immer noch hören. Sie waren wie der Wind, oder waren der Wind, und taten ihre Anwesenheit kund. Als ihre Auflösung vollständig war, wandte er sich von den Böen ab und trat aufs Gaspedal. Das Auto schnellte vorwärts und wirbelte eine andere Staubwolke auf, die sich unter die Derwische mengte, welche ihm folgten.
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Er hatte recht gehabt mit seiner Vermutung, daß er unterwegs noch mehr Plätze finden würde, wo er Gespenster rekrutieren konnte. Von jetzt an werde ich immer recht haben, dachte er.
Der Tod irrt sich nie; niemals. Nach einer Fahrstunde fand er noch einen Friedhof, wo ein Staubderwisch aus halb
aufgelösten Seelen an der vorderen Mauer entlanglief wie ein Hund an der Leine, der ungeduldig auf die Ankunft seines Herrn wartet. Offenbar war ihm die Kunde seines Eintreffens vorausgeeilt. Sie warteten, diese Seelen, begierig darauf, sich zur Meute zu gesellen. Er mußte das Auto nicht einmal abbremsen. Als er heranfuhr, wehte ihm der Staubsturm entgegen und erstickte das Fahrzeug vorübergehend, bevor er aufstieg und mit den Seelen hinter ihm verschmolz. Tommy-Ray fuhr einfach weiter.
Kurz vor der Dämmerung fand seine unglückliche Truppe noch mehr Zustrom. In der Nacht war es zu einem Unfall an einer Kreuzung gekommen. Glasscherben lagen auf der Straße; Blut; und eines der beiden Autos, kaum mehr als solches er-kenntlich, lag verkehrt herum im
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