Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
viel Talent zuschrieben, konnte er doch subtil sein, wenn es erforderlich war. Er fand es eben nur nicht allzu oft erforderlich.
Herauszufinden, wo Ian wohnte, war einfach gewesen, und er hatte sich nur kurz vergewissert, dass der Primaner noch mit dem Studium seiner Bücher beschäftigt war, und war dann losgezogen.
Als er das moderne, dreigeschossige Mietshaus fand, trat ein Mann heraus. Sein weißes Haar stand im auffallenden Gegensatz zu seinen jugendlichen Bewegungen, doch es war die Ausstrahlung geballter, gezügelter Macht, die ihn so bemerkenswert – in jedem Sinn des Wortes – machte.
Sich mit dem Arkanen zu befassen war immer ein Spiel mit der Macht. Vom Akolythen zum Meister arbeiteten alle Arorianer darauf hin, diese Macht zu erfassen und zu begreifen. Sie existierte als Struktur, die nicht nur die Welt durchdrang, sondern sie letztlich bestimmte. Man fand sie in Menschen, in der Natur, in den Energielinien und in den Fey.
Dieser Feyon hatte mehr als genug davon. Sutton spürte seine Machtaura, ohne eine Messung vornehmen zu müssen. Um zu ergründen, ob der Mann tatsächlich ein Sí war, würde es genauer Untersuchungen bedürfen; dazu hatte Sutton im Moment weder Zeit noch Muße. Doch er zweifelte keinen Augenblick daran. Wenn man wusste, dass es sie gab, und wenn man die Kräfte der Welt so lesen konnte, wie andere Menschen zwischen den Zeilen verstiegener Poesie, dann war klar, was er war. Das Kribbeln im Rückgrat sagte es einem, und Sutton hatte gelernt, dies besondere Kribbeln ernst zu nehmen, denn es war verlässlicher als das, was das bloße Auge wahrnahm.
„Sieh mit dem Herzen! Augen lügen“, hatte sein erster Lehrer des Arkanen ihm beigebracht. Sutton verließ sich auf vieles, was der Mann ihm einst gesagt hatte. Schamane war er gewesen, Medizinmann der eingeborenen Bevölkerung, dort wo er aufgewachsen war. Ausgerechnet er als Pfarrerssohn hatte den Einstieg in eine andere als die christliche Weltsicht erfahren. Es war eine subtile Rache für die Missionsschule, die Indianerkindern beibrachte, untertänige Weiße zu sein. Der Pfarrerssohn lernte eifrig alles über die Kräfte der Natur. Das Curriculum war dabei von den Lehrinhalten seines Vaters so weit entfernt, wie es nur eben sein konnte. Seine Begabung auf diesem Gebiet machte ihn für das Wissen ganz besonders geeignet. Letztlich allerdings wusste er, dass er niemals in die Fußstapfen des Schamanen würde treten können, so hatte er denn eine ähnliche Karriere in seiner eigenen Kultur gesucht.
Es hatte ihn nicht sonderlich erstaunt, einen Feyon aus Ians Haus kommen zu sehen. Wenn er den Jungen richtig verstanden hatte, war ein Feyon sein Freund, und nachdem sie nicht eben in Mengen auftraten, musste das dieser Freund sein. Aus unerfindlichen Gründen hatte er eine Sonnenbrille erwartet, doch der Mann hatte durchaus kein Problem damit, ohne dunkle Gläser durch die Spätnachmittagssonne zu schreiten. Also war er vielleicht doch kein Vampir, oder Ians Kenntnisse, was die Blutsauger anging, waren eher theoretischer Natur. Oder aber er wusste es nicht besser.
Sutton hatte sich einen Vampir nicht wie den attraktiven – und so gar nicht unheimlichen – jungen Mann vorgestellt, dem er gefolgt war. Ein nächtlicher Jäger hatte finsterer, dämonischer, schauerlicher auszusehen. Doch er war sich bewusst, dass seine Erwartungen von Mythos und mündlicher Überlieferung geprägt waren – weder das eine noch das andere waren zuverlässige Quellen. Letztlich gab es keinen Grund, warum eine Schreckenskreatur nicht wie ein formvollendeter, begüterter Gentleman aussehen sollte, der sich nach der neuesten Mode kleidete. Harmlos auszusehen war nicht gleichbedeutend damit, harmlos zu sein.
Der Mann hatte sich nicht einmal umgedreht, um nachzusehen, ob er verfolgt wurde. Sutton hoffte deshalb, er sei zu in sich gekehrt, um ihn zu bemerken. Zudem hatte sich der Adept große Mühe gegeben, unbemerkt zu bleiben. Ein leichtfüßiger Jäger war er gewesen, immer eingedenk der Tatsache, dass seine Beute über mehr Sinne verfügte als er selbst – und über mehr Macht.
Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass die Energieentladung vielleicht ein offener Angriff gewesen war. Vielleicht beobachtete der Weißhaarige ihn, stand hinter der Gardine und manipulierte Energielinien in ein tödliches Netz – einen Augenblick lang nur – in der Hoffnung, dass der ärgerliche Verfolger daran kleben blieb wie eine Fliege im Spinnennetz.
Er schauderte. Seine
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