Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
schien ein „gesegneter Fürsprecher“ zu sein, so zumindest nannten die wenigen Menschen, die um die Existenz der Bruderschaft des Lichts wussten und ihre Ziele guthießen, jene Meister des Arkanen, die von der Bruderschaft selbst ausgebildet wurden, in flammendem Widerspruch zu allem, was die Kirche zu Hexerei zu sagen hatte. Die Kunst, Bannsprüche zu weben und magische Kräfte anzuwenden, entschuldigten sie mit dem übergeordneten Ziel, die Sí sowie auch menschliche Hexen zu jagen und zur Strecke zu bringen. Freilich war die Hexenjagd in den letzten einhundert Jahren ein wenig aus der Mode gekommen. Dennoch hätte Schwester Maria-Achatius gewettet – wenn sie jemals gewettet hätte, was gänzlich undenkbar war –, dass die Bruderschaft ihr Interesse an Hexen und Magiern nie aufgegeben hatte.
Um Kreaturen zu jagen, die über viel Macht verfügten, musste man sich selbst ebensolche Macht aneignen, und einer jener mächtigen Männer stand direkt auf der anderen Seite der Wand. Der Schwester neben dem Ofen stockte beinahe der Atem. Das Vernünftigste, was sie nun tun konnte, war, sich leise zu entfernen, in den Garten am besten, um ein paar gesunde Kräuter zu pflanzen. Ein paar Ave-Marias mochten auch nicht schaden. Dass die Heilige Jungfrau an der Seite der übriggebliebenen Fanatiker der Inquisition kämpfte, hatte die Nonne noch nie geglaubt.
Wenn man sie hier entdeckte, konnte sie sich nicht darauf verlassen, dass ihre Mutter Oberin ihr helfen würde. Die Frau hatte so viel Angst vor dem Bösen, dass sie ihm weit mehr Aufmerksamkeit schenkte als dem Guten. Eine traurige Einstellung nach Schwester Maria-Achatius’ Meinung. Sie selbst hatte immer geglaubt, dass bei allem Bösen, das es in der Welt gab, diese doch eine Schöpfung Gottes und somit im Grunde gut war.
„Was wollen Sie tun, Bruder Gabriel?“, fragte die Mutter Oberin.
„Ich werde ihr eine Spinne zeigen. Das sollte sie aus ihrer Lethargie reißen. Es hat ja immerhin letzte Nacht der ganzen Stadt den Schlaf geraubt. Das Böse weilte unter uns.“
„ Libera nobis, domine! “, betete der Priester.
„Du lieber Himmel! Die arme Frau!“, flüsterte die Mutter Oberin.
Einen Augenblick später gellten hysterische Schreie durch das Kloster. Die Nonne wusste nicht genau, wie der Bruder seinen Plan umgesetzt hatte, doch sie war sich sicher, dass, sofern die beiden Herren nicht einen Skizzenblock dabei hatten, der Magier das Spinnenbild direkt in den Sinn der Frau projiziert hatte. Das Bild des achtbeinigen Ungeheuers, das sie alle in der vergangenen Nacht im Traum gesehen hatten.
Barbarisch war das.
Das Geschrei war unendlich hoch und durchdringend. Nur gelegentlich wurde es kurz zum Atmen unterbrochen. Wenn der Mann sie aus der „Lethargie“ hatte reißen wollen, so war ihm das zweifelsfrei geglückt. Hatte er vorgehabt, eine vernünftige Aussage zu erhalten, so mochte er weniger erfolgreich sein.
„Spinne!“
Nur dieses Wort wiederholte sich in der Kakophonie ansonsten inhaltsleerer Schreie immer wieder.
„Eine Reaktion haben Sie ja augenscheinlich bekommen!“ Die Stimme des Priesters klang trocken, kaum konnte man sie bei dem Lärm hören. „Ein etwas sanfteres Vorgehen hätte uns vielleicht ein detaillierteres Resultat gebracht.“
„Ich bitte darum, anderer Meinung sein zu dürfen, Hochwürden“, antwortete der Meister. „Ich musste durchbrechen. Der Verstand der Frau war blockiert. Sie wird sicher gleich zugänglicher.“
Das Geschrei ließ aber nicht nach. Ein schmerzhafter Aufruf einer Männerstimme legte nahe, dass die Frau sich heftig wehrte.
„Rede!“, befahl Bruder Gabriel.
„Spinne! Spinne!“
„Was für eine Spinne?“
Das Jammern wandelte sich in langanhaltendes Schreien.
„War es eine große Spinne? Sieh mich an! War es eine große Spinne? Sehr groß? Größer als meine Faust? Viel größer? Wie groß? Hast du davon geträumt oder hast du sie gesehen? Sag schon! Du musst es mir sagen, Weib! Sieh mir in die Augen! So. So ist’s gut. Gib mir deine Erinnerungen! Finde die richtigen Worte. Du kannst doch sprechen! Sprich! Erzähl uns von der Spinne!“
„Spinne! Eine Spinne! Eine Spinne! So riesig. Wie ein Hund. Wie ein Esel. So riesig. So riesig! Die Krallen, diese Krallen! Sie trinkt mich. Sie ersticht mich! Sie reißt mir das Herz heraus! Sie reißt mir das Herz heraus! Meine Seele! Meine Seele! Meine eigene Seele! Es …“
Schwester Maria-Achatius fühlte, wie die Welt sich mit einem Mal verdickte.
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