Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
Sie wusste, was es bedeutete, und hatte weniger als eine Sekunde, sich auf die Energielinien vorzubereiten, die jäh aufflammten und anschwollen. Sie wand sich und duckte sich, machte sich klein und unscheinbar. Im nächsten Augenblick war das Phänomen vorbei. Fast wäre sie vor Schreck umgefallen.
Sie hatte sich noch nicht erholt, als sie vor der Tür Schritte hörte. Sie raffte ihr Habit und erhob sich so blitzschnell, wie man es einer recht rundlichen Frau mittleren Alters niemals zugetraut hätte. Sie sprang hinter die Tür, noch während diese sich öffnete. Sie hatte nicht hier zu sein. In diesem Raum gefunden zu werden, würde nicht ohne Kommentar abgehen.
Jemand trat ein. Die offene Tür verdeckte Schwester Maria-Achatius nur teilweise, und sie zog sie noch weiter zu sich her. Schritte im Zimmer. Das leise Rauschen eines langen Gewandes. Eine Schwester also, kein Bruder. Die Schranktür quietschte. Im Schrank wurden Leintücher aufbewahrt. Jemand suchte etwas, nahm etwas heraus.
Schwester Maria-Achatius’ Herz schlug so laut, dass sie meinte, jeder müsste es deutlich hören können. Sie wagte kaum zu atmen. Nach einer Weile wurde ihr klar, dass wenn sie jetzt atmete, ihr Keuchen noch lauter wäre. Ihr wurde das Gesicht heiß, beinahe zersprang ihr die Brust bei all der alten Luft, die sie dort drinnen hielt.
Die andere Schwester hatte es nicht eilig, bewegte sich mit der ruhigen Würde, die man ihnen allen beigebracht hatte, in Schwester Maria-Achatius’ Fall schon seit ihrer Kindheit. Endlich wurde die Schranktür geschlossen. Die Schritte gingen zur Tür. Die Tür wurde von außen geschlossen.
Schwester Maria-Achatius rang nach Atem. Sie schickte ein Dankgebet an die Heiligen Barbara, Margarete und Katharina für Errettung aus Gefahr und Bedrängnis und versprach, eine Kerze anzuzünden. Drei sogar.
Das war knapp gewesen. Einen Moment lang wartete sie und lauschte den verklingenden Schritten im Korridor. Dann eilte sie zum Ofen zurück.
Die Mutter Oberin klang fast außer sich vor Schuld, Angst und Empörung.
„Hochwürden! Sie ist tot! Sie haben sie getötet!“
„Unsinn. Ihr Angreifer hat sie umgebracht, dies ist nur eine Nachwirkung des Angriffs von gestern Nacht. Sie lag im Sterben, es hat nur bis jetzt gedauert. Beten Sie für sie, Mutter Oberin.“
„Aber Hochwürden! Sie erholte sich doch gut! Keine ihrer Verletzungen war lebensbedrohlich!“
„Still! Die Werke Gottes sind schwer und gefährlich. Was wir tun, tun wir für einen guten Zweck. Nun beten Sie!“, wies der Priester sie an.
„Möge Gott sie in Gnaden aufnehmen!“, betete die Frau.
„Wohl kaum. Ihre Seele ist beschädigt“, erklärte der Bruder mit klinischer Gelassenheit. „Ihr Leben war voller Sünde. Sie ist des Teufels. Sehen Sie es positiv: Jetzt handelt es sich nicht mehr um Körperverletzung, sondern um Mord. Ihren Angreifer kann man jetzt mit Fug und Recht hängen.“
„Immer vorausgesetzt, er ist nicht auch ein Opfer des Bösen“, widersprach der Priester. „Dann wäre er unschuldig.“
„Kaum jemand ist unschuldig.“
„Wir werden es ergründen.“
„Aber die Frau! Sie ist tot!“, klagte die Mutter Oberin.
„Wir werden für ihre Seele eine Messe lesen lassen“, beteuerte der Priester.
„Sie war eine Sünderin“, merkte der Bruder abermals an.
„Sie starb für einen höheren Zweck“, erklärte der Priester beschwichtigend. „Das mag sie immerhin geläutert haben. Wir werden um ihre Läuterung beten und um Gottes Gnade.“
„Was wir tun, tun wir für die wahren Kinder Gottes“, sagte der Bruder.
„Amen“, wisperte die Äbtissin. „Danke.“
Kapitel 66
Ian spürte das Aufflackern der Energielinien etwa eine halbe Sekunde, ehe sie erstarkten. Seine Nackenhaare standen senkrecht. Sein Herz flatterte.
Er duckte sich und fiel auf die Knie, als die Welt einen Augenblick lang blitzweiß wurde und die sonst schemenhaften Spuren der unglaublichen Kraft dieser Welt zu Kabeln anschwoll. Er spürte, wie ihm Schweiß den Rücken hinunterlief, als litte er an einem Fieberanfall, und er war sich sicher, einen Moment später schon hilflos im Koma zu liegen.
Wer würde ihn finden, jetzt, da die Polizei wieder gegangen war und auch Frau Treynstern ihn verlassen hatte, gestützt auf eben jene altjüngferliche Nachbarin, über die er sich vor wenigen Tagen erst lustig gemacht hatte?
Dort, wo zwei gleißend weiße Linien sich kreuzten, wurde die Welt fadenscheinig und durchsichtig. Ein Loch
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