Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
abzubekommen. Außerdem mangelte es ihrem Vokabular an Wortfülle.
Die Worte lagen ihr auf den Lippen, doch sie konnte sie nicht aussprechen. Ihre Zunge war verkehrt dafür, und ihr Mund fühlte sich auch falsch an. Zudem hatte sie zu viele nadelscharfe Zähne, die beim Sprechen ziemlich im Weg waren.
Sie versteckte sich im Hinterhof eines Gebäudes in der Innenstadt. Sie kannte das Haus. Es lag in der Neuhauser Straße, nicht allzu weit vom Rathaus entfernt. Fast den ganzen Weg dorthin war sie in der vergangenen Nacht gerannt. Doch nun wusste sie nicht mehr ein noch aus. Sie war vollkommen am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt.
Eines war allerdings sicher: Nach Hause konnte sie nicht.
Ihr Ausbüchsen eine Stunde vor Mitternacht durch ein Fenster des Gesinderaums war ihr gut gelungen. Sie war die gebohnerten Treppen im Haus im Dunkeln hinuntergeschlichen, fast gelähmt vor Angst, erwischt zu werden. Doch weder ihre Eltern noch die Dienerschaft hatte sie an ihrem Fortkommen gehindert, und noch nicht einmal Miss Colpin – das hatte Catrin wirklich erstaunt – war plötzlich aufgetaucht, um nach ihrem Verbleib zu sehen.
Sie erreichte das Fenster, öffnete es. Sie kletterte auf den schma-len Gartenpfad darunter, gab gut acht, das Fenster offenstehen zu lassen, denn schließlich hatte sie vor, in wenigen Minuten den gleichen Weg zurück einzuschlagen.
Denn sie würde keinesfalls mit ihm mitgehen. Sie war sich ganz sicher; das würde sie nicht tun. Sie war nicht so eine, und seine gefühlvolle und überraschende Einladung machte ihr mindestens genauso viel Angst wie sie sie berauschte. Es war so verführerisch sich vorzustellen, wie sie ihm in die Arme sank und ihr Schicksal in seine Hände legte. Er würde sie mit sich nehmen und sie in ein neues Leben führen, eines, in dem sie nicht von allen drangsaliert werden würde. Ein Leben ohne andauernde Demütigung?
Wohl kaum. Wenn sie mit ihm ging, würde sie den Rest ihres Lebens Demütigungen ertragen müssen. Sie würde nie mehr die Möglichkeit haben, in die anständige Gesellschaft zurückzukehren. Sie hatte so gar keine Lust auf eine Karriere als loses Frauenzimmer, und sie wollte auch keine linksseitige Verbindung, die man vielleicht noch mit Mühe als morganatisch bezeichnen konnte, doch vermutlich nicht einmal mehr das.
Wie konnte er ihr so etwas anbieten? Statt eines Rings am Finger einen Schubs in die Gosse. Wie konnte er es wagen? Er musste sich doch im Klaren darüber gewesen sein, dass sie ein solches Angebot ausschlagen musste.
Doch ihre Gründe musste sie ihm erläutern. Mit seinen lächelnden grauen Augen wartete er irgendwo in der Dunkelheit, die Straße runter und um die Ecke, außer Sichtweite. Weit war es nicht. Sie konnte seine Anwesenheit beinahe spüren.
Ganz nah war er und bot ihr eine Fluchtmöglichkeit. Sie stellte es sich vor: eine geschlossene, schwarze Kutsche, die Laternen abgeblendet, vier schwarze, dampfende Rösser warteten ungeduldig. Ein Wagenschlag würde sich öffnen, und er würde ihr hineinhelfen, in den Wagen und in das neue Leben. Er würde ihr die Hand küssen, so wie er es schon einmal getan hatte. Doch diesmal hatte sie keine Handschuhe an, war ohne sie aus dem Haus geklettert. Nicht mal einen Hut trug sie. Sie wollte nicht, dass es so aussähe, als ginge sie tatsächlich fort.
Das tat sie nicht. Nicht mit ihm. Bestimmt nicht.
Sie erreichte das schwarze Gartentor und erstarrte, als es in den Angeln quietschte. Man konnte ein Fenster sich öffnen hören, oben, vielleicht im Schlafzimmer der Eltern?
Ihr Herz gefror, sandte Strahlen eisiger Panik durch ihren Körper. Sie sah nicht hoch, drehte sich nicht danach um, rührte sich nicht einmal, stand nur reglos weiter im Schatten der Hecke. Wer auch immer aus dem Fenster schaute, würde sie so vielleicht nicht sehen. Sie war ein Busch, ein Stück Dunkelheit, ein Teil des Schattens. Jedenfalls kein Mädchen auf dem Wege zu einem heimlichen Treffen. Sie konzentrierte sich darauf, einfach nicht da zu sein.
Dennoch erwartete sie jeden Augenblick einen Schrei. Würden sie nach ihr rufen? Würden sie einen Skandal riskieren dadurch, dass sie hinter ihr her schrien? Oder würden sie einen größeren Skandal riskieren, indem sie still blieben und versuchten sie zurückzuholen, bevor sie noch zu weit gegangen war – nicht dass sie das vorhatte.
Sie wollte nicht erwischt werden. Dass sie gar nicht weglaufen wollte, würde man ihr nicht glauben, wenn ihr einziger Beweis hierfür
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