Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
wusste auch nicht, wie lange sie so laufen können würde.
Wo war es nur hergekommen? War es Teil des Blitzes gewesen, der an ihr vorbeigeschossen war? Hatte es Lord Edmond umgebracht und jagte sie nun als Nachtisch? War es einfach aus dem Nichts aufgetaucht? Oder war es ihnen gezielt gesandt worden, um die geplante Flucht zu bestrafen? Eine Strafe, auf die sie nicht einmal in ihren Alpträumen selbst käme? Gehörte es zu Lucillas Ressourcen, Monster heraufzubeschwören? Lächerlich.
Ihr Rock verfing sich, und einen Atemzug lang glaubte sie, es hätte sie erreicht. Sie schrie und riss sich los, zwang ihre Beine weiterzulaufen. Sie schlidderte um eine Ecke, stürzte beinahe nieder. Irgendjemand stand in der Dunkelheit. In ihrer ersten Panikreaktion glaubte sie, dass auch diese Kreatur darauf aus war, sie zu erjagen. Doch dann erkannte sie, dass es ein Mann war, kein Ungeheuer, ein hochgewachsener, junger Herr, der neben seinem Fahrrad stand. Er blockierte ihren Fluchtweg.
Einen Augenblick später hielt er sie in den Armen, fühlte sich stark und verlässlich an. Seine Hände hielten sie in einer beschützenden Geste. Konnte er ihr helfen? Er war schließlich ein Mann. Mehr als das. Er war eine Zuflucht.
„Helfen Sie mir!“, rief sie und versuchte, sich noch tiefer in seinen Armen zu verbergen, als hinge ihr Wohl und Wehe davon ab, dass sie sich darin verbergen konnte. Einen Moment nur sah sie sein Gesicht, es schien vertraut und war doch das Gesicht eines völlig Fremden.
„Sie sind in Sicherheit“, sagte er ihr in einer ruhigen, tröstenden Stimme. „Ich werde Sie beschützen. Was ist denn geschehen?“
„Es ist hinter mir her! Es will mich töten. Oh Gott! Bitte!“
„Keine Angst, ich werde ... heilige Maria, Mutter Gottes!“
Der tröstende Klang war plötzlich fort, und sie wusste, dass das Spinnenungeheuer nahte.
Der Mann schob sie hinter sich, und sie lief weiter, versuchte dabei, seinen Worten Glauben zu schenken, seinem Versprechen, dass er es aufhalten würde. Dabei wusste sie, dass er keine Aussicht hatte, es mit dem Biest aufzunehmen. Er würde nur das nächste Opfer sein. Erst Lord Edmond, dann er.
Sie sollte bleiben und ihm helfen. Sie wusste das, vermochte es aber nicht. Furcht trug sie weiter und weiter fort von ihrem Zuhause. Ihre panikschnellen Schritte hallten von den Häuserschluchten wider. Sie rannte durch die Dunkelheit, durch eine Nacht, die von einem Monster beherrscht wurde, das sie auffressen würde, wenn es sie bekam. Eine Nacht, die von unheimlichen Linien durchzogen war, die alles durchdrangen, die sich durch den Äther zogen, den Himmel umspannten, sich um Ecken bogen. Sie liefen in Häuser hinein und durch sie hindurch, und Catrin war sich sicher, dass wo sie auf Menschen trafen, sie diese ebenfalls durchdringen würden. All die schlafenden Männer, Frauen und Kinder in der Stadt. Ein Netz. Ein Spinnennetz vermutlich?
Sie achtete darauf, die Linien nicht zu berühren, wenn sie ihnen nahe kam, doch ihre Vorsicht ließ sie langsam werden. Sie war erschöpft, begann zu stolpern. Sie bekam kaum noch Luft, hatte Seitenstechen. Rennen war keine Fähigkeit, die sie in den letzten Jahren hätte üben können. Junge Damen rannten nicht.
Sie schleppte sich weiter, bis sie kaum noch zu Atem kam. Sie musste sich ausruhen.
Sie hielt an und sah sich um. Wo sie genau war, wusste sie nicht. Irgendwo auf halber Strecke zwischen ihrem Zuhause und der Innenstadt in einer Gasse, in der sie sich keinesfalls aufhalten sollte, schon gar nicht allein bei Nacht. Nicht ohne Begleitung, nicht ohne Hilfe. Hier konnten hinter jeder Ecke Gefahren lauern.
Die nächste Gaslaterne stand auf der Hauptstraße. Catrin lehnte an einem Bretterzaun. Er blockierte das Ende der Straße und machte sie unpassierbar. Sie musste hier raus. Doch der Zaun war zu hoch und sie zu klein, und in einem Krinolinenkleid konnte man nicht über Zäune klettern. Sie musste zurück zur Hauptstraße und von dort aus auf einem anderen Weg nach Hause finden.
Nur, würde sie dem Spinnenwesen wieder über den Weg laufen, wenn sie zurückging? Hatte es den jungen Mann umgebracht, der sie so sicher in den Armen gehalten hatte – wenn auch nur für einen Augenblick? Sein Gesicht stand vor ihrem inneren Auge, und sie versuchte, es zu vergessen. Einen Kämpen hatte sie gehabt, einen Helden, und er war für sie gestorben. Oder konnte er überlebt haben? War es möglich?
Kaum. Im Märchen verlor der strahlende Ritter nicht gegen
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