Jenseits des leuchtenden Horizonts - Roman
gewesen, vielleicht wütend genug, um …« Sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, geschweige denn sich vorstellen, wie furchtbar es sein musste, mit einem Speer getötet zu werden.
»Das heißt doch nicht, dass sie ihn töten würden«, sagte Cornelius, doch seine Worte klangen weniger überzeugend, als ihm lieb gewesen wäre. Verzweifelt wünschte er sich, glauben zu können, was er gerade gesagt hatte, oder es wenigstens Erin glauben zu machen.
»Wer weiß schon, zu was sie fähig sind, Onkel Cornelius. Jonathan hatte jedenfalls ziemliche Angst vor ihnen.«
»Uns bleibt nichts, als in Ruhe abzuwarten«, sagte Cornelius, als sie vor dem Haus vorfuhren. »Ich werde uns jetzt erst einmal einen starken Tee kochen.«
Die Zeit verging, und immer noch kam keine Nachricht von Will.
»Ich halte das nicht mehr aus«, sagte Erin schließlich.
»Ich werde in die Stadt fahren und nachhören, ob es auf dem Polizeirevier schon Neuigkeiten gibt«, sagte Cornelius. »Kannst du eine Weile allein hierbleiben?«
»Ich komme mit«, sagte Erin.
»Nein. Besser, jemand wartet hier, für den Fall, dass ein Constable kommt.«
Erin wusste, dass das sinnvoll war. »Dann beeil dich, Onkel Cornelius. Ich ertrage das nämlich nicht viel länger.«
Von der Veranda aus sah sie zu, wie Cornelius sich auf den Weg in die Stadt machte. Dann wanderte sie durch das stille Haus, und das Herz wollte ihr schier brechen vor Schmerz. Sie stand da und schaute von der offenen Tür der hinteren Veranda aus auf die Schaukel, und sie wünschte, Marlee mit ihrem schönen Lächeln säße darauf. Wenn sie mit angesehen hatte, wie Jonathan mit einem Speer getötet wurde … Erin stöhnte auf. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie grausam das für die arme Marlee sein musste. Wenn Jonathan tatsächlich tot war, dann würde sie Marlee suchen und vor den Aborigines beschützen, das gelobte sie sich in diesem Moment. Sie würde sie nicht unter Wilden aufwachsen lassen. Jonathan hätte gewollt, dass sie sich um die Kleine kümmerte.
Erin ging ins Wohnzimmer, setzte sich und ließ den Tränen freien Lauf. Erschöpft schloss sie die Augen.
»Cornelius!«
Erin sprang auf. Ein Constable mit Neuigkeiten? Sie betete, dass er die Nachricht brachte, die sie hören wollte. Sie wollte zur Haustür laufen, dann blieb sie jedoch wie angewurzelt stehen. Jonathan stand in der offenen Tür, die zur Veranda führte. Sie sah Marlee auf der Schaukel sitzen, genau, wie sie sich das eine halbe Stunde zuvor vorgestellt hatte. Einen Augenblick überlegte Erin, ob sie wohl eingeschlafen war und träumte.
»Jonathan! Sie leben«, keuchte sie.
»Erin!«, rief Jonathan überrascht. »Was machen Sie denn hier?«
Als sie ihn sprechen hörte, wusste sie, dass sie nicht träumte. Ohne zu zögern, rannte sie zu ihm, schlang ihm die Arme um den Hals und drückte ihn fest an sich. Auch er legte die Arme um sie, und es fühlte sich wunderbar an, beinahe zu schön, um wahr zu sein. Erin hörte, wie Marlee ihren Namen rief. Nur wenige Augenblicke später hatte die Kleine die Arme um ihre Taille geworfen.
»Sie haben ja keine Ahnung, wie erleichtert ich bin, Sie hier zu sehen«, flüsterte Erin unter Freudentränen.
»Wieso ist es so überraschend, dass ich am Leben bin?«, fragte Jonathan.
»Will erzählte mir, ein Weißer sei getötet worden … Sie sind in Sicherheit und Marlee auch.« Sie kniete sich hin und umarmte die Kleine. »Ich hab dich ja so vermisst«, sagte sie und küsste Marlee auf die Wange.
»Ich hab dich auch vermisst, Erin«, erwiderte Marlee und legte ihr die Arme um den Hals.
»Geh noch einen Moment raus auf die Schaukel, Marlee«, sagte Jonathan. »Ich will etwas mit Erin bereden.«
Fröhlich lief Marlee zurück zur Schaukel, während Jonathan und Erin in die Küche gingen und sich setzten.
»Wir kommen gerade von Marlees Familie«, sagte Jonathan düster.
Verwirrt sah Erin ihn an. »Dann waren Sie also doch da. Dassein Weißer mit einem Speer getötet wurde, war wohl eine Falschmeldung.«
»Nein, das stimmt. Es war Bojan Ratko.«
Erin riss die Augen auf. »Bojan!«
»Ein paar junge Hitzköpfe vom Stamm der Anangu dachten offenbar, er wolle ein Kind entführen. Ich glaube, er war tatsächlich auf der Suche nach Marlee. Irgendwer muss ihm gesagt haben, dass wir zu ihrer Familie wollten. Wahrscheinlich wusste er gar nicht, dass wir inzwischen in England gewesen waren. Er hat sicher die ganze Zeit in Australien nach uns gesucht. Vielleicht hat er
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