Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
Zuckerguss verschüttet war und das sie mir in einer braunen Aludose schickte, zusammen mit in Zeitungspapier eingewickelten Malzbierflaschen und geräuchertem Hammelfleisch. Dem Essen beigefügt war ein zehnseitiger Brief, den ich nicht sofort aufmachte. Ich schob es vor mir her, ihn zu lesen, und genoss es vielmehr, in einen lockigen Jungen mit verschmitzten Rabenaugen verknallt zu sein, mit einer Nase, die der meinen glich, und mit einem tiefen Grübchen, das so gut zu seinem clownesken Humor passte, mit dem er immer wieder dafür sorgte, dass ich mich fast kaputtlachte.
Tagsüber arbeitete Jordi auf dem Markt am Fleischstand seines Vaters, trat aber abends bei jeder Gelegenheit als Komiker in einem altehrwürdigen Jazzklub auf, irgendwo tief in den Eingeweiden von El Raval. Dort hörte ich mir Abend für Abend an, wie Jordi eine Pointe nach der andern drosch, bevor er sich zu der Jazzband gesellte und, einen Fingerhut an jedem Finger, auf dem Waschbrett spielte, während das Getrampel des Publikums immer lauter wurde und das Gelächter verdrängte. Arndís kam nur einmal mit, gab milde lächelnd zu verstehen, dass Stand-up-Comedy nicht gerade ihr Humor sei, es sei ihr zu grob, insbesondere, wenn der Schlachter am Mikro stand.
Sie war eingeschnappt, keine Frage. Wir wollten die Feiertage zusammen verbringen, und nun bandelte ich mit diesem fremden Jungen an. Aber sie behielt es für sich, denn sie wusste genau, dass sie mich dazu angespornt hatte, lockerer zu sein und mehr zu flirten. Um zu mir selbst zu finden – und so war ich also: himmelhoch happy.
Wenngleich Arndís das etwas anders ausdrückte: Du hast das Erstbeste genommen, was dir über den Weg gelaufen ist, frotzelte sie, doch ansonsten ließ sie mich in Ruhe. Großzügig auf ihre Art, borgte sie mir Klamotten, Parfüm und sogar Ohrringe, putzte mich mit derselben Sorgfalt heraus, wie sie es bei einem eigenen Date getan hätte, und gab mir Ratschläge, was in einer Beziehung zu beachten sei. Ich vergaß sie sofort.
Manchmal ergriff sie die Gelegenheit und schleppte mich mit in den marokkanischen Imbiss, den sie inzwischen fast täglich besuchte, weil das schönäugige Mädchen angefangen hatte, ihr Arabisch beizubringen. Arndís sog auch diese Sprache in sich auf – fest entschossen, nach ihrer Spanischprüfung Kunstgeschichte zu studieren. Meistens jedoch traf ich mich nun mit Jordi zum Essen. Und scheute mich davor, ihn mit meiner selbstbewussten Freundin bekannt zu machen.
Ich verschwieg ihr, dass Jordi mich ins Miró-Museum einlud, ich verschwieg ihr, dass wir uns zusammen ein Museum nach dem anderen ansahen, ich wollte seine Vorträge über die Kunstwerke für mich alleine haben, die voller Überschwang waren, aber trotzdem lehrreich. Arndís besuchte die Museen allein, aus Pflichtgefühl. Da ich selbst keine Kunst schaffen kann, möchte ich zumindest alles über sie erfahren, hatte sie einmal gesagt.
Ich fand diesen Gedanken interessant, doch kam mir dieser Drang zugleich etwas übertrieben vor. Auf der anderen Seite war es für eine werdende Kunsthistorikerin sicherlich wichtig, gute Beziehungen zur Kunstszene aufzubauen, weswegen sie auch bald mit der ganzen isländischen Boheme bekannt war – und zu allen Künstlern Kontakt halten wollte, bis sich geklärt hatte, ob sie mehr als nur durchschnittlich talentiert waren.
Du bist aber pragmatisch, sagte ich, verblüfft von dieser Herangehensweise. Ihre Ehrlichkeit beeindruckte mich, denn sie erforderte Mut. Arndís konnte sich in der Welt bewegen. Im Gegensatz zu mir, die in einer winzigen Wohnung bei einer Oma-Mutter aufgewachsen war. Wobei sich Arndís’ Herkunft von meiner eigentlich gar nicht so sehr unterschied. Eins war klar: Sie verwirrte mich. Besonders, wie sie aus tiefstem Herzen lachen konnte, nachdem sie wieder einmal eine ihrer extremen Thesen verkündet hatte, zum Beispiel, dass neun von zehn modernen Kunstwerken Mist seien, achtzig Prozent aller isländischen Frauen Landpomeranzen und höchstens zwei von tausend Büchern es wert, gelesen zu werden. Ich merkte einfach nicht, wann sie etwas ernst meinte und wann nicht, was immer wieder dazu führte, dass sie mich mit meiner Naivität aufzog.
Du zerbrichst dir eben über alles den Kopf, dafür liebe ich dich, sagte Jordi, als ich ihm von meiner Verwirrung erzählte, während wir im Windschatten eines Felsens unweit des Parks Güell in der Weihnachtssonne saßen und das geräucherte Hammelfleisch aus Mamas Weihnachtspaket
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