Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
sich leider aufgrund anderer Verpflichtungen nicht in der Lage, persönlich zu erscheinen. Darunter ist auf einem kleineren Foto ein Weihnachtsbaum zu sehen, der sich unter seinem Schmuck biegt. Seine Äste breiten sich über einen Berg von Paketen, auf denen ›Mütterhilfswerk‹ steht. Isländische Weihnachten: Überflüssige Worte, überbordender Luxus mit einer Prise schlechten Gewissens. Weihnachten in Barcelona war irgendwie anders.
Wo die Ladenbesitzer das Überflüssige so geschmackvoll präsentierten. Auf den Marktplatz hatte sich ein Geruch aus Kerzenwachs, Räucherkerzen, Zuckerwaffeln, heißer Schokolade, Röstkastanien und türkischem Honig gelegt, die von Baldachinen bedeckten Marktstände krachten fast zusammen vor lauter Heiligenstatuen, Jesuskindern, Krippen und Heiligen Drei Königen.
Im Labyrinth des jüdischen Viertels hing überall Lichterschmuck, sogar die ältesten Häuser glänzten blau, grün und rot wie Sterne am Himmel, Wegweiser durch das Gedränge.
An den Ständen türmten sich Obst, Gemüse und Käselaiber, schimmelige, parmesangelbe, schneeweiße; zuckende Fische, zappelnde Krebse mit zusammengebundenen Scheren, Miesmuscheln in Schale, Tintenfisch in Stücken und Hummer auf Eis, sehr bleiche Schweinsfüße und abgeschlagene Schweinsköpfe, kopfloses Geflügel, Tunfisch-Steaks, Gewürze in Säckchen und Olivenöl in Kanistern. Darüber hingen Fleischbrocken, Schweine- und Wildschweinkeulen über Plastikeimern mit zerschnittenen Herzen, aus denen schwarzes Blut floss; dazu gab es: selbst gemachtes Aioli, Dattelkuchen, Wein, Bauernbrot, Oliven mit Knoblauch und Schokoherzen, die auf der Zunge zergingen. Die Atmosphäre war süß, dicht, trunken; gesättigt mit dem Geruch von Blut, Fruchtzucker, Meersalz, Zwiebelatem und Milchsäure.
Aus jeder dunklen Ecke stieg Uringeruch auf, wurde aber schwächer, sobald man sich einer der vielen Kaffeebars auf dem Markt näherte, die vollgepackt waren mit Menschen, die plauderten und Kaffee tranken, während gleichfalls gesprächige Kellner aus fauchenden Kaffeemaschinen Dampf aufsteigen ließen, der die Brandygläser beschlagen ließ, sich mit Tabakrauch vermischte und auf die Miesmuscheln in den Tonschalen legte. Im Winter war dies der Markt der Einheimischen, im Sommer der Markt der Touristen.
Wir hielten uns für Einheimische, als wir hier auf dem Markt im Stadtzentrum einkauften, zwischen den Bars herumstreiften, Kaffee und Brandy tranken und Lebensmittel in unseren Einkaufskörben aufhäuften. Und mit den Fleischverkäufern flirteten. So lernte ich Jordi kennen.
Das sieht aber gut aus, davon hätte ich gern zwei Scheiben, sagte ich und zeigte auf ein blutiges Stück Fleisch.
Ich schenke sie dir, wenn ich sie für dich braten kann, sagte er und kniff ein Auge zusammen; er schnitt die Scheiben ab, wog sie, wischte sich an der weißen Schürze das Blut ab und sah mich fragend an. Dergleichen war eigentlich normal, wenn man als Frau in Barcelona unterwegs war, in den letzten Monaten hatte ich so was oft erlebt, obwohl Arndís’ unwiderstehlicher Charme die meisten Seitenblicke auf sich zog, aber dieses Mal war es irgendwie anders: der Schimmer in seinen Augen, das tiefe Grübchen in seinem Kinn, eine ihm nicht bewusste Bewegung. Ich fühlte mich augenblicklich zu ihm hingezogen, und ihm erging es offensichtlich genauso.
Okay, sagte ich also und spürte, wie sich Hitze über meinem Gesicht ausbreitete, als er säuselte: Gebongt, Süße!
Sofort warf Arndís mir einen Blick zu, ihre grünen Augen verdunkelten sich, als sie mich leise und hastig fragte, was hier los sei.
Ich möchte wissen, wie Fleisch schmeckt, wenn ein Schlachter es zubereitet, das oberste Glied in der Nahrungskette, sagte ich und spürte, wie mir der Brandy zu Kopf gestiegen war. Ich machte, was ich wollte! Das hatte ich alles ihr zu verdanken. Zum ersten Mal mochte ich den Geruch von Blut.
Die nächsten Tage vergingen wie im Traum. Ich dachte nur selten an Mama, die Weihnachten nun zu Hause verbrachte, sie ließ sich das Flugticket mit ihrer Reiserücktrittsversicherung erstatten, nachdem sie meine Ausflüchte geschluckt hatte: Ich muss so viel lernen für die Prüfungen direkt nach Weihnachten, meinst du, du könntest auch etwas später kommen? Tut mir riesig leid, wirklich Mama, aber so ist es nun mal, echt bescheuert.
Sie hatte Verständnis. In dem Glauben, dass ich für die Prüfungen paukte, backte sie isländisches Weihnachtsgebäck, das unter einer dicken Schicht
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