Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
sind sie an der Straßenecke stehen geblieben. Ich habe die wirklich gesehen, Sunna, ich habe mich ein paarmal umgedreht, wollte dir aber nichts sagen, weil du dich dann bestimmt auch umgedreht hättest. Sie haben uns fast den ganzen Weg lang verfolgt.
Das muss ich übersehen haben! Ich sage ihm, er solle aufhören, mir solche Angst zu machen, das seien bestimmt nur irgendwelche Teenager gewesen, die durch die Straßen gezogen sind, nun sollten wir lieber ausspannen, eine Pizza mit Rucola bestellen und kucken, was im Fernsehen läuft.
Ich wünschte, Axel käme nach Hause. Vielleicht haben die Politiker recht und wir brauchen schärfere Einreisebestimmungen, damit nicht Verbrecher aus allen möglichen Ländern hierherkommen, denke ich und versuche, mich für diesen Gedanken nicht zu schämen. Ein Glück, dass Mama gerade nicht da ist, die alte Esperanto-Enthusiastin; und auch mich selbst überrascht, dass ich plötzlich so ein Feigling bin. Ich, die ich überall gewesen bin, mich nachts in Großstädten herumgetrieben habe, alles tat, wonach mir der Sinn stand. Irgendetwas muss passiert sein. Sonderbar, dass ich ein Mensch geworden bin, der sich vor allem fürchtet. Natürlich gibt es nichts zu fürchten. Wo bleibt Axel?
Er ruft an, als Helgi und ich, umgeben von Pizzaresten, vor einem Disneyfilm über einen sprechenden Hund dösen. Er klingt bedrückt, ihm ist langweilig, seine Bekannten sitzen jeden Abend in der Hotelbar, und er könne diese Fahrstuhlmusik dort nicht mehr hören, die ich ehrlich gesagt ganz rockig finde. Wenigstens habe er sich durch kniehohen Schnee in die Bücherei vorgekämpft und einen ganzen Stapel Bücher besorgt, um die Zeit totzuschlagen.
Was für Bücher?, frage ich.
Bücher über Kajaks und …
Kajaks?
Ja, nur so dies und das, was in den letzten Jahren erschienen ist, was ich nie Zeit hatte zu lesen.
Ach so, sage ich und spüre Unruhe im Magen. Hast du eine billigere Unterkunft gefunden?
Ja, eine Pension, das Zimmer ist ganz schön, und sie haben eine kleine Bar, der Besitzer lässt mich umsonst da wohnen, ich empfehle ihn dann in einer Werbebroschüre, du musst dir also keine Sorgen wegen des Geldes machen. Aber ich komme natürlich so schnell es geht nach Hause.
Kommst du wirklich zu mir zurück?
Warum fragst du denn so was?, sagt er lachend und möchte mit Helgi sprechen. Sie quatschen eine Zeitlang, währenddessen sich in mir das Gefühl breitmacht, seit Monaten nicht mehr mit Axel geredet zu haben.
*
Ich wische den Tisch ab, kämpfe gegen die Sehnsucht an, wische das Waschbecken aus, vermisse, vermisse, vermisse ihn.
Soll ich dir beim Abwasch helfen?, fragt Helgi. Er lehnt sich an den Türrahmen und sieht mich freundlich an.
Es gibt nichts abzuwaschen, sage ich, den Kopf tief über das Waschbecken gebeugt. Wir haben doch nur Pizza gegessen. Trotzdem vielen Dank.
Okay, Sunna. Ich helfe Mama manchmal, wenn sie lange gearbeitet hat. Aber manchmal will sie auch allein sein, so wie du jetzt.
Ich sehe ihn an, als er aus dem Türrahmen verschwindet.
6. Dezember
DIE ANGST HAT mein Herz so fest im Griff, dass es panisch um sich schlägt. Axel, Axel, Axel, komm zurück, Verbrecher laufen hier herum und Geister, sie verfolgen deinen Sohn und mich auf den leeren Straßen. Hör auf zu lachen, das ist die Wahrheit, das Hurenviertel von El Raval ist ein Jahrmarkt gegen den Laugavegur, hier würde es niemand merken, wenn die unheimlichen Männer uns angreifen, hier kauft keiner Weihnachtsgeschenke, hier halten sich die Leute von der Straße fern, um dem Feinstaub zu entgehen, der sich auf die Atemwege setzt, hier ist alles tot und erledigt, hier tanzen nur die, die mit einem Fuß bereits im Grab stehen und nicht mehr viel haben, glaub mir, Mama tanzt die ganze Zeit mit einem Portweinrest im Mundwinkel.
Komm nach Hause, sorge dafür, dass mir niemand ein Teddykostüm anzieht, damit ich Millionen von Menschen schale Lebensweisheiten verkünde, verbiete mir, unbekannten Leuten hinterherzuspionieren, nur damit dein Sohn und meine Mutter sich nicht langweilen, sorge dafür, dass die Sonne aufhört, den Staub anzustrahlen, pass auf mich auf!
Damit ich endlich sein kann wie die anderen. Unschuldig, mutig, gut. Und gesund. Ich habe so viel Angst vor dem Leben und dem Tod, mein lieber Axel, ich bin mit den Nerven am Ende, du musst auf mich aufpassen, denn es braucht nur noch eine winzige Störung in meinem Körpergefüge, und ich breche zusammen, kaufe auf dem Schwarzmarkt zur Sicherheit
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